Montag, 22. Dezember 2014

Die Kunst des Heilens

Ich bin nun schon seit über einem Jahr approbiert und feiere bald meine ersten 12 Monate als Ärztin. Wenn ich auf diese Zeit so zurückblicke, sehe ich, dass mein Weg nicht immer sehr einfach war, ganz im Gegenteil, der ist und bleibt bis heute recht steinig.

Es ist irgendwie eine Tradition, dass man am Ende des Jahres an eine – schon relativ willkürliche, wenn man’s bedenkt – Grenze kommt und alles, was sich in der letzten Zeit ereignet hat, Revue passieren lässt. So bin ich jetzt auch an einem Punkt angekommen, wo ich viel über das vergangene Jahr und wie es mich verändert hat nachdenke.

Viele der wesentlichen Punkte habt Ihr ja auch hier im Blog mitbekommen – und ich bin nach wie vor sehr froh, dass ich mich über diese Plattform äußern kann. Einen Gedanken möchte ich allerdings noch vor dem Jahresende loswerden, und er passt leider nicht in die heitere Weihnachtsstimmung.

Zu Beginn meines Studiums habe ich ein Buch geschenkt bekommen, das genau so wie die Überschrift dieses Eintrags heißt. Es geht darin um die Geschichte der Medizin – vom Altertum bis in die heutigen Tage. Es ist wirklich ein sehr gutes Buch, vor allem weil es einen zum Nachdenken bringt und viele Zusammenhänge – auch in heutigen Behandlungsmethoden – klar werden lässt. An dieses Buch denke ich in den letzten Tagen immer wieder, denn nun bin ich lange genug Ärztin, um den Erfolg – oder aber Misserfolg – meiner Handlungen zu sehen.

Im Studium selbst lernt man unheimlich viel Gutes und Nützliches. Wie ist die Energieaufnahme der Zelle aufgebaut? Welche genetischen Störungen kann man klinisch erkennen? Wenn die Erst- und Zweitlinienmedikation bei M. Parkinson nicht funktioniert, worauf kann man noch zurückgreifen?

Um solche Informationen zu verinnerlichen, besuchen wir zahlreiche Vorlesungen und Seminare, üben tagelang am Krankenbett und werden anschließend vom IMPP drei Tage lang unter die Lupe genommen. Dann kommt der klinische Alltag – und die Welt steht plötzlich Kopf.

Keine Frage, je mehr man im Studium gelernt und verstanden hat (und vor allem je mehr von diesen gelernten Informationen dann auch in einer Stresssituation schnell verfügbar sind), desto leichter wird einem der Einstieg in den Arztberuf fallen. Doch das theoretische Wissen ist noch nicht alles.

Wenn ich an positive Erfahrungen dieses Jahres denke, fällt mir mein persönlicher Lerneffekt „Lungenödem“ ein. Zwei Mal musste ich einen Patienten mit diesem akuten lebensbedrohlichen Krankheitsbild sehen, einmal verkannt haben, einmal den an seinem letzten Tag angekommenen, dem durchmetastasierten Krebsleiden erlegenen Patienten bewusst dahin gleiten lassen, um es beim dritten Tag richtig diagnostiziert und behandelt zu haben. Das ist der Ausdruck des lebenslangen Lernens – ich kann jetzt davon ausgehen, dass ich beim nächsten Mal noch schneller die Entscheidung treffen und die Therapie einleiten werde.

Wie schön es auch sein kann, Menschenleben zu retten, so bedrückend ist es auch, ein näheres Ende herbeizurufen, ob direkt oder indirekt. Ich spreche jetzt nicht von der aktiven Sterbehilfe – auch unsere besten Therapieansätze können für einen kranken Körper zu viel sein. In den meisten Fällen ist es die Chemotherapie, die anstatt das Leben zu verlängern dieses nur verkürzt.

Ich bin nun lange genug auf der Krebsstation, um meine Patienten, die ich im Frühling oder Sommer so voller Energie und Lebensfreude kennenlernte, heute mit kahlen Köpfen, kraftlos, energielos, von Nebenwirkungen gequält zu sehen. Viele, bei denen wir damals die Therapie einleiteten – und eigentlich guter Dinge waren – sind heute nicht mehr. Häufig passiert es ganz allmählich, die Kräfte schwinden Tag um Tag, sodass der Mensch irgendwann einfach nicht mehr leben mag, aber manchmal kommt das Ende von jetzt auf gleich.

Noch gestern habe ich diesen Patienten visitiert und wie haben über das weitere Vorgehen nach der Entlassung gesprochen, und heute liegt er in einer Blutlache, weil der Tumor den Übergang zur Lungenarterie endlich geschafft hat. Vor einer Woche wollte ich jenen Patienten anrufen, um mich für die kleine Aufmerksamkeit von ihm zu bedanken, und heute morgen ist er nicht mehr aufgewacht. Am Freitag haben wir einen Patienten auf die Intensivstation mit einem akuten Nierenversagen verlegt, heute kam er zurück, entwickelte kurz darauf eine akute Luftnot und war binnen kürzester Zeit dahin.

Solche Fälle, wo keiner von uns mit einem baldigen Ende gerechnet hat, gehen mir unheimlich nah. Ich nerve dann jeden, den ich nur erreichen kann mit meinen Gedanken und Gefühlen, und kann bei manchen meinen Patienten bis heute nicht loslassen. Immer und immer wieder gehe ich meine Handlungen im Kopf durch: Haben wir alles richtig gemacht? Haben wir an alles gedacht? Warum ist der Patient dann trotzdem gestorben?

Ich habe ja hier auch schon mehrmals zum Thema Tod geschrieben. Dass man den richtigen Moment erkennen muss, dass jeder von uns nur Gast auf dieser Erde ist, dass wir Menschen nicht imstande sind, über anderer Menschen Leben zu entscheiden. Es ist ja alles schön und gut, nur was mache ich jetzt? Ich kann Feierabend machen und nach Hause gehen, aber irgendwo sonst in dieser Stadt, gar nicht so weit von hier, kommt nach dem heutigen Tage keiner mehr heim.

Samstag, 29. November 2014

Dickes B

Wer meine letzten Blogeinträge liest, mag sich vielleicht denken, dass mir jeden Tag etwas schlimmes passiert. Das ist natürlich nicht der Fall, nur braucht man positive Emotionen eben nicht so intensiv zu verarbeiten, und deshalb bleiben sie meist unbeschrieben. Um nun die Stimmung ins Fröhliche zu lenken (vor allem angesichts der nahenden Weihnachtszeit), folgt hier ein Eintrag über das Beste, was ich im Arztberuf bisher gefunden habe.

Mein Vater, der seine Wehrpflicht auf einem U-Boot abgeleistet hatte, behielt aus diesen Zeiten ein großes Foto mit seinen Kameraden, auf dem noch stand: "Nur auf einem U-Boot findet man diesen einzigartigen Zusammenhalt. Denn wenn das Boot verunglückt, sterben sie alle, und gerade das schweißt die Männer zusammen". 

Der Stationsalltag, wie öde er auch sein mag, ist natürlich in keinster Art und Weise mit dem Wehrdienst am Meeresgrund vergleichbar. Doch auch dort, angesichts des alltäglichen Stresses, des Frusts und der Demütigung, entstehen Freundschaften, die denen an der Front sehr ähneln.

Egal in welcher Klinik ich bin (ob im Irrenhaus von Brandenburg oder jetzt in der Betreuung krebskranker), es finden sich immer Menschen, mit denen ich mich auf eine ganz einzigartige Art verbunden fühle (wie durch dieses Zauberfädchen, von dem noch Goethe schrieb). Diese Freundschaften helfen mir enorm, mein Engagement aufrechtzuerhalten und nicht alles hinzuschmeißen und abzuhauen.

Klar, es gibt bei mir jede Menge Durchhänger (wie, glaube ich, bei jedem von uns). Aber umso stärker baut es mich wieder auf, wenn Hilfe kommt, wenn jemand, der auch dasselbe gerade erlebt oder erlebt hat, genau die richtigen Worte findet, damit ich sage: "Wow, hey, das gibt mir wieder Kraft".

Häufig hilft bereits ein kurzes Gespräch (in dem die Themen allerdings in Sekundenschnelle wechseln können, von klassischen Werken oder moderner Poesie bis zum deutschen Hip-Hop ist alles dabei!), und schon gehe ich mit geradem Rücken mich den nächsten Aufgaben stellen. Die Hilfe meiner lieben Mitmenschen ist dabei wirklich unschätzbar. Sie weitet meinen Horizont, sie zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich am liebsten losheulen würde, sie lässt mich immer und immer wieder das Licht am Ende des Tunnels erblicken und daran glauben, dass nicht alles verloren ist. 

Ich kann nur sagen: Vielen Dank! Lasst das Gute, was Ihr meinem Leben habt angedeihen lassen, zu Euch zurückkommen, vertausendfacht. Lasst Eure Probleme, bei denen ich Euch leider sehr nur sehr wenig behilflich sein kann, dahinschweben, damit sich die trüben Wolken am Horizont bald verziehen und Ihr wieder den ganzen Tag Spaß machen, lachen und albern sein könnt. Ich drücke Euch allen da draußen die Daumen: "So say we all!"

 

Donnerstag, 13. November 2014

Never say never

Vor langer, langer Zeit (ich glaube, es war so im fünften Semester) fand ich einen Nebenjob als Nachtwache in einem schicken Altersheim direkt am Kudamm. Die Arbeit an sich war so lala (vor allem die Bezahlung war total mau - für einen achtstündigen Nachtdienst bekam ich gerade so 56 €), aber manche Bewohner habe ich echt ins Herz geschlossen, und das half mir durch.

Eine von ihnen, mit der ich mich am besten verstand, war eine 101-jährige Dame, die wie eine Lokomotive rauchte, aber nach wie vor einen kristallklaren Verstand besaß. Sie war klein und zierlich, und während ich ihre Beine für die Nacht von den Kompressionsstrümpfen befreite, erzählte sie mir aus ihrem Leben: Wie sie über 50 Jahre eine Wohnung nicht weit von hier bewohnte, wie Berlin sich im Laufe ihres Lebens veränderte, wie ihr "lieber Vati" als Ingenieur zur Jahrhundertwende Flugzeuge mitentwickelte und noch viel mehr.

Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hat seitdem nie geheiratet. Kinder hatten sie keine, und so widmete sie sich ihren zahlreichen Nichten und Neffen. Die meisten von ihnen leben in der ganzen Welt zerstreut, kaum jemand ist in Berlin geblieben.

An dieser Freundschaft erfreute ich mich sehr. Und für die alte Dame bin ich auch zu einer Bezugsperson geworden. Ab und zu hatte sie Zeiten, bei denen sie sich nicht wohl fühlte, und sie bat mich dann, auch in der Nacht nach ihr zu sehen. Jedes Mal, als ich es wirklich tat, erhellte sich ihr Gesicht und sie schlief danach friedlich ein (das erzählte sie mir dann immer bei der nächsten Begegnung).

So nett und lieb, wie meine kleine Freundin auch war, konnte ich früher oder später keinen Spaß mehr an der Arbeit im Altersheim finden und bin gegangen. An meinem letzten Abend dort, als ich sie wie immer aufsuchte, um sie bettfertig zu machen, war sie viel bedrückter als sonst und sehr traurig. Ich werde ihr fehlen, hat sie gesagt, und schenkte mir einen kleinen Schutzengel, der die ganze Zeit davor auf ihrem Nachttisch stand.

Ich habe versprochen, sie anzurufen, und hatte es die ganze Zeit danach auch fest vor. Nur kam dann aber der Jobwechsel, ich musste mich bei der anderen Stelle (im Schlaflabor) ordentlich einarbeiten, und habe den Anruf immer wieder verschoben. Im Juli hatte meine Freundin Geburtstag, und ich war schon Monate davor dazu eingeladen worden. Kurz davor habe ich gedacht, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo ich zum Telefon greifen und die bekannte Nummer wählen soll: Das Gespräch darf nicht verschoben werden!

Doch als ich anrief, ging keiner ran. Ich habe es wieder und wieder versucht, auch an anderen Tagen - ohne Erfolg. Meine Hoffnung war, dass sie vielleicht im Krankenhaus ist - an das Schlimmste wollte ich nicht denken.

Ein paar Monate danach traf ich einen Arbeitskollegen in der Bahn. Ein wenig Small-talk - na, wie geht's, alles klar - bis ich die Frage stellte, was mit der kleinen Dame passiert ist. Die ist schon längst gestorben - war die Antwort. Nach meiner Kündigung habe sie angefangen, rapide abzubauen - körperlich wie geistig - und war binnen kurzer Zeit dahin.

Ich hatte es die ganze Zeit befürchtet, und trotzdem traf mich diese Nachricht wie ein Schlag. Es war so, als hätte in diesem Moment jemand das Wort "Nimmermehr" in mein Ohr geflüstert - wie in diesem Gedicht von Poe.

Der kleine Schutzengel steht immer noch in meinem Wohnzimmer. Ich hatte mir damals geschworen, dass ich nie wieder etwas verschieben werde, niemals.

Diesen Eintrag hier schreibe ich jetzt, weil ich das doch getan habe. Ein Patient, den ich im Juni kennenlernte und der mir seitdem sehr ans Herz gewachsen war, ist letzte Woche verstorben. Kurz davor war er noch bei uns auf Station vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen - da war ich aber im Urlaub, und er hat ein kleines Geschenkkörbchen hinterlassen. Ich hatte seitdem die ganze Zeit vor, ihn anzurufen um mich zu bedanken - und habe es nicht getan.

Gewissensbisse habe ich jetzt reichlich. Aber was hilft es denn? Hätte ich bloß zur richtigen Zeit zum Telefon gegriffen - nun ist der Augenblick vorbei. Das einzige, was ich machen kann, ist allen in meiner Reichweite diesen einen Gedanken ans Herz zu legen: Haltet den Moment, vertagt nichts und sagt Euren Lieben, dass Ihr sie lieb habt, jedes Mal, wenn Ihr es könnt. Denn es wird früher oder später die Zeit kommen, bei der der Rabe das Wort ergreift: "Nimmermehr".

Donnerstag, 6. November 2014

It's my life

"Sie war von ihrem Krebsleiden dahingerafft worden. Inoperabel. Ja, er hatte ihr in der letzten Woche vermutlich zu viele Schmerztabletten gegeben, und zuletzt hatte er ihr trotz allem mit einem Kissen auf dem Gesicht helfen müssen ... , aber das hatte er aus Liebe und Menschenfreundlichkeit getan."
Stephen King, "Die Arena"

Neulich habe ich eine Patientin kennengelernt: Ende 70, Erstdiagnose Krebs. Als erstes ist sie von einer Kollegin behandelt worden und hat sich als erstes sofort mit ihr zerstritten. Die anderen Kollegen haben es auch versucht, und mussten anschließend über die Patientin ebenfalls fluchen.

Ich hörte dem Gespräch der Kollegen nur mit einem halben Ohr zu, da ich in meine eigenen Sachen zu sehr vertieft war. Hinzu kam noch, dass sie bereits am Tag der Aufnahme auf die Kardiologie verlegt werden musste, weil man im Aufnahme-EKG eine Rhythmusstörung gesehen hat.

Aus den Augen - aus dem Sinn. Am nächsten Tag dachte keine mehr an die lästige Dame. Wir kümmerten uns weiter um andere, die viel artiger waren und keinen Ärger verursachten.

Am Freitag kam sie aus der Kardiologie zurück - austherapiert und allem Anschein nach wohlauf - wie durch Zufall in eins der Zimmer auf der von mir betreuten Seite. Ich hatte jedoch so viel um die Ohren, dass ich sie selbst nicht begrüßen konnte, und so hat sie wieder einer der Kollegen aufgenommen.

Am nächsten Tag hatte ich Dienst. Im Zimmer, wo die neue alte Patientin lag, musste ich die Zimmernachbarin visitieren (es ging ihr die Tage davor nicht besonders gut, und daher sollte sie am Wochenende täglich ärztlich gesehen werden). Und die besagte Patientin sollte zudem täglich EKG erhalten (die Kollegen aus der Kardiologie begannen die Behandlung mit Amiodaron - einem Medikament, das zur Bekämpfung bereits vorhandener Rhythmusstörungen eingesetzt wird, jedoch so viele Nebenwirkungen hat, dass darunter auch neue auftreten können).

Die klinische Visite war schnell erledigt - der Zimmernachbarin ging es gut, sie hatte keine Luftnot und auch Fieber kam nicht mehr. Ich bereitete das EKG-Gerät für Schreiben vor, und war von der Bereitwilligkeit der von allen als sehr schwierig beschriebenen Patientin sehr überrascht. Sie folgte allen meinen Anweisungen und machte keinen Aufstand.

Das EKG-Schreiben erinnerte mich an meine Frankreich-Famulatur: Dort gehörte es zu den täglichen Aufgaben. Als das Gerät den Papierstreifen herausspuckte, schaute ich ihn mir genau an: prima, normaler Rhythmus. Ich unterhielt mich noch kurz mit der Patientin (nur etwas small talk) und ging aus dem Zimmer raus.

Am Abend bin ich in das Zimmer erneut gerufen worden: Bei der "schwierigen" Patientin war eine Infusion angesetzt worden, sie wisse jetzt aber nichts davon und wolle daher auch nichts nehmen, ohne einen Arzt gesprochen zu haben. Ich ging rein, erklärte ihr, dass der Tropf ihren Knochen helfen wird, fest zu bleiben, da sie jetzt vom Krebs angegriffen zu sein scheinen, und sie stimmte dem Procedere zu. Als ich die Infusion anschloß, blickte sie mich mit den ernsten Augen an und meinte: "Wenn die Diagnose Krebs sich bestätigen sollte, will ich keine Chemotherapie. Und wenn die Krankheit sehr weit fortschreitet und ich Schmerzen bekomme, gehe ich in die Schweiz".

Ich wusste sofort, was das bedeutet: In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe erlaubt - es ist also möglich, dem Krebsleiden dadurch ein Ende zu setzen. Ich erwiderte den Blick und sagte: "Es ist Ihre Entscheidung, und ich kann Sie nicht daran hindern". Das schien die richtige Antwort zu sein: Sie nickte zustimmend, und sogar ihr Blick wurde weicher.

Nach dem Dienst hatte ich ein paar Tage frei. Als ich wieder auf die Station kam, war die Patientin schon entlassen worden. Die Diagnose hat sich bestätigt, sie wollte keinerlei Therapie und ging nach Hause.

Ich glaube nicht, dass wir uns je wiedersehen werden. Die strenge Dame, die mehrere Jahrzehnte lang als Ingenieurin in einer leitenden Position tätig war, kann es nicht zulassen, dass sie über ihre letzten Monate auf dieser Erde die Kontrolle verliert. Wie soll ich dazu stehen? Machen die 6,5-Jahre des Studiums mich dazu berechtigt, über ihr Leben zu entscheiden? Wie weit darf ich in meiner Arztrolle überhaupt eingreifen? Andererseits - was würden ihre Angehörigen wohl dazu sagen, wenn sie wüssten, dass es eine Chance auf ein längeres Leben für die Ehefrau, Mutter, Oma gibt? Dürfen sie dann nicht mitentscheiden?

Schwieriges Thema, das auch hierzulande für viele Diskussionen sorgt. Ich habe keine Antwort, die eindeutig richtig ist. Aber in diesem einen Falle war ich bereit zurückzutreten und die Frau ihrem Schicksal zu überlassen: Es ist ihr Leben.

Montag, 27. Oktober 2014

Ärztliche Schweigepflicht

"Ich werd gerufen: "Herr Doktor, ich merk' meine Beine nicht!"
Ich sage nichts - ärztliche Schweigepflicht"
Alligatoah - Narben
 
Jeder von uns hat Geheimnisse, mal große, mal kleine. Es wird sogar häufig behauptet, wer keine hat, ist uninteressant. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht und wer alles davon wissen darf.
 
Mit dem Begriff der ärztlichen Schweigepflicht bin ich das erste Mal im ersten oder zweiten Semester konfrontiert worden. Damals haben wir alle so einen Fetzen Papier bekommen, auf dem irgendwelche Paragraphen standen. Den musste man unbedingt unterschreiben, sonst hätte man keine Erlaubnis für praktischen Unterricht bekommen.
 
Die ganze Zeit davor war ich nicht mal auf die Idee gekommen, die Informationen, die im ärztlichen Gespräch häufig erhoben werden, auf diese Art und Weise (sprich auf Daten- und Personenschutz bezogen) zu betrachten. Es war damals (in meiner Zeit als nicht medizinisch geschultes Personal bzw. als "nur" Patientin) selbstverständlich, dass ich dem Arzt alle Fragen ehrlich beantworten muss.
 
Zu Beginn meiner medizinischen Laufbahn bin ich auch nicht in dem Ausmaß in Berührung mit vertraulichen Daten gekommen, wie ich es jetzt tue. Vielleicht liegt es daran, dass ich nun einen echten Visitenkittel trage (und nicht sein labormäßig gestyltes Korrelat - oh ja, es gibt da Unterschiede, die nur ein Kenner erfassen kann!!) oder dass ich bei der Anamneseerhebung recht selbstsicher und souverän rüberkomme. Vielleicht habe ich aber etwas mehr Erfahrung in Sachen vertrauliche Informationen und kann die richtigen Fragen stellen.
 
So oder so: In den letzten Monaten habe ich über meine Mitmenschen Sachen erfahren, die ich nie vermutet hätte - und ich spreche hier nicht von meinen Patienten. Da ist ein attraktiver sportlicher Mann im besten Alter, der mir eine Diagnose verrät, die an ganz andere, viel tristere Verhältnisse denken lässt. Da ist eine junge erfolgreiche Frau, die über den Abbruch einer Schwangerschaft berichtet, die sie sonst an ihrem Erfolg gehindert hätte. Da ist ein anderer Mann, ebenfalls im besten Alter, mit Fragen über Fragen, unterwegs in einem Meer aus Ungewissheit auf der Suche nach einem sicheren Hafen. 

Schon als kleines Kind habe ich lieber anderen zugehört, als selber was erzählt (diese Eigenschaft hat mich wiederum mit ordentlich Spott seitens meiner Mutter und Schwester beschert, was mich aber damals ordentlich geärgert hat), und es ist für mich nach wie vor die liebste Freizeitbeschäftigung. Vor ein paar Monaten habe ich schon berichtet, was für Schätze in den Menschenseelen verborgen liegen können. Ich bin nun überglücklich, wenn ich diese Kostbarkeiten auch nur ganz kurz zu sehen bekomme: Es ist für mich der schönste Anblick der Welt.


Mittwoch, 1. Oktober 2014

An Tagen wie diesen...

... An Tagen wie diesen sehe ich keinen Sonnenschein, es ist immer Nebel, und es ist auch gut so.
... An Tagen wie diesen sehne ich mich nach dem Feierabend, der aber nicht kommen will.
 ... An Tagen wie diesen rase ich durch die Straßen mit meinem Fahrrad und Sublichtgeschwindigkeit, um von meinen Gedanken wegzukommen, und es gelingt mir nicht, denn sie sind immer noch schneller.
... An Tagen wie diesen fragt mich eine Schwester, ob ich geweint habe, und ich merke, dasss ich das tatsächlich hätte machen können.
... An Tagen wie diesen muss ich wieder in die jungen Augen blicken und sagen: "Ja, Sie haben Krebs, leider, fortgeschritten und nicht operabel".
... An Tagen wie diesen muss ich für meine kranken, leidenden, verzweifelten und verunsicherten Patienten der Fels in der Brandung sein - und es gibt niemanden, der sich für mich, die ich auch krank, leidend, verzweifelt und verunsichert bin, einsetzt.
... An Tagen wie diesen will ich umso mehr Wärme, Freude, Fürsorge und Hilfebereitschaft ausstrahlen, für meine Freunde, die es brauchen, kann es aber nicht, weil ich mich so leer und ausgebrannt fühle.
... An Tagen wie diesen zweifele ich an meiner Erinnerung, das Licht am Ende des Tunnels einmal erblickt zu haben, ich zweifele an meinem Traum und möchte am liebsten alles hinschmeißen und - au revoir!
... An Tagen wie diesen will ich allen, die mit dem Gedanken spielen, Medizin zu studieren, eben diesen Gedanken ausreden: Es lohnt sich nicht.
... An Tagen wie diesen ... 

Montag, 29. September 2014

Bald auf Sendung

Es ist im Moment so viel los in meinem Leben (beruflichem wie privatem) und es schwirren so viele Sachen in meinem Kopf herum, dass ich absolut gerne ihnen allen den Austritt gewähren und über all das hier sprechen und schreiben möchte. Das Problem ist nur - mir fehlt die Zeit. Und die Gelassenheit, die Gedanken zu ordnen und zu systematisieren (um sie eben wiedergeben zu können; ich bin, während ich diesen einen Absatz schreibe, schon fünf mal unterbrochen worden).

Daher möchte ich nur sagen: Es ist zwar gerade eine Sendepause hier im Blog, die wird aber nicht mehr lange anhalten. In nur einer Woche ziehe ich in eine andere Wohnung um (die eigentlich ein Haus ist), und ab dann geht's weiter mit ordentlichen Einträgen und anderen Abenteuern. Bleibt dran, es ist bald soweit!! Nur noch kurz durchhalten... 

Donnerstag, 14. August 2014

Einfach mitsegeln

Neulich habe ich in der Bahn ein Werbeplakat gesehen, darauf war ein schönes Bild mit einem Segelschiff. Dieses Bild hat mich zu einem Gedanken gebracht, der mich bis heute beschäftigt.

Ich komme aus einem Ort, der vielleicht von allen Orten dieser Erde am weitesten enfernt von einem großen Gewässer liegt. Ernsthaft, wenn ich die Weltkarte betrachte, die direkt über meinem Schreibtisch hängt, sehe ich dort genau in der Mitte des eurasischen Kontinents einen Punkt. Das ist meine Heimatstadt, da komme ich her. Das ist ein Punkt, der vom Golf von Bengalen genauso weit entfernt ist wie vom Nordpolarmeer, und vom Kaspischen Meer genauso weit wie vom Pazifischen Ozean.

Woher kommt es denn, dass ich, seit ich mich erinnern kann, vom Meer träume? Als Kind habe ich ein Piratenbuch nach dem anderen gelesen, das schönste von allen - "Captain Blood" - bestimmt über 50 Mal. Ich habe den Weg des Schiffs "Duncan" aus "Die Kinder des Kapitän Grant" mit meinen Freundinnen nachgespielt - so ziemlich makaber, wenn ich jetzt daran denke. "Die Insel der Kapitäne", eine russische Kurzgeschichte, las mir meine Mutter vor, wenn ich krank war.

Umso verwunderlicher ist es jetzt, dass es von diesem kleinen Mädchen, das stundenlang der Stimme des Meeres in einer Muschel aus dem Pazifik zuhören konnte, so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist. "Captain Blood" liebe ich zwar nach wie vor (und keine Verfilmung dieser Welt kommt auch nur annähernd an meine Fantasie heran), habe das Buch aber schon seit Jahren nicht mehr angerührt. Ich kenne nicht mehr die Kontinente, die "Duncan" auf seinem Weg besuchte, und auch die schöne Insel weit weit weg, wo Kapitäne der Kinderschiffe hausen, ist aus meiner Erinnerung fast verschwunden.

Das schöne Schiff, das ich in der Bahn sah, machte mir deutlich, wie sehr ich mich in den letzten Jahren verändert habe. Ich weiß noch nicht, ob es eine Veränderung zum Guten oder zum Bösen war. Aber ich würde so gerne das Meer aus meinen kindlichen Vorstellungen wiedersehen - und einfach lossegeln.

Übermorgen verabschiede ich mich in einen Kurzurlaub - zwei Wochen an dem Ort, der auf dieser Erde möglicherweise am weitesten entfernt von allen großen Gewässern liegt. Wer weiß, vielleicht finde ich dort mein altes Ich, das immer noch verborgen zwischen den Seiten meiner Kinderbücher lebt.

Sonntag, 27. Juli 2014

Der Kranke

In Russland werden Patienten meistens mit der Anrede "Kranker" oder "Kranke" angesprochen. Kaum hört man, wie hierzulande, das Wort "Patient", das ich viel angebrachter finde. Im ersten Falle steckt dahinter so eine Art Überhebligkeit, sodass andere Leute - die "Kranken" eben - wie von oben herab behandelt werden.

Das ist ein gutes Beispiel, um russische Mentalität generell und russische Medizin an sich zu verstehen. Jeder, der nur ein bisschen Macht besitzt, wird sie auch sofort raushängen und anderen das Gefühl vermitteln, nichtig zu sein. Deswegen ist es keine Seltenheit, dass Patienten in Krankenhäusen oder Polikliniken gedutzt werden, genauso wie Besucher in verschiedenen Ämten. Ich finde das sehr unhöflich und habe durch mein zwanghaftes "Sie" auch dem letzten Obdachlosen gegenüber in meinem russischen Pflegepraktikum für viel Sympathie gesorgt. Auch wenn die Schwester das nicht verstehen konnten und / oder wollten.

Egal. Jeder hat halt sein eigenes Weltbild, und Du wirst nicht allen Deinen Kopf an die Schulter setzen können. Mein eigentliches Erlebnis liegt eigentlich woanders. Und zwar: Neulich habe ich begriffen, dass unsere Patienten, unsere "Kranken", in der Tat ganz eigenständige Leute sind und auch ein Leben außerhalb des Krankenhauses besitzen.

Es mag sich wie Hirngespinst anhören, aber es war für mich wirklich wie ein Paukenschlag. Die Ehefrau eines Patienten hat mich auf dem Flur angesprochen und wollte Auskunft. Ich war so fertig mit den Nerven - es war mal wieder so ein verrückter Tag, wo man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist - dass ich sie schnellstmöglich abwimmeln wollte, um mich anderen Aufgaben zu widmen. Außerdem hatte ich am Tag davor ausführlichst mit ihrem Mann gesprochen und ihm alle Informationen so richtig vorgekaut. (Off-Topic: Ich mag es wirklich nicht, wenn tausend Angehörige einer nach dem anderen an meiner Tür klopfen und immer dasselbe wissen wollen, anstatt sich miteinander auszutauschen!!!)

Nun ja, zurück zu der Frau. Sie war natürlich nicht besonders begeistert, als ich sie abschütteln wollte, und als ich meinte, ich müsse mich auch um die anderen kümmern, es seien schließlich noch mehr Patienten hier, die dieselbe Krankheit haben, antwortete sie: "Mag sein, aber für mich ist mein Mann der einzige".

Das war der Moment, der mir quasi die Augen geöffnet hat. Von dem Augenblick an habe ich angefangen mir vorzustellen, wie meine Patienten auf ihre Angehörigen wirken. Dieser nervige Opa, der jeden meinen diagnostischen oder therapeutischen Schritt ganz genau wissen und unter die Lupe nehmen will, scheint tatsächlich der Familienoberhaupt zu sein, dem alle zu gehorchen haben. Sein Nachbar, der immer gut gelaunt ist, wird fast jeden Tag von seiner Frau besucht, die ebenfalls sehr nett erscheint, und erzählt mir jedes Mal von seinen zahlreichen Kindern, Nichten, Neffen und Enkelkindern. Der dritte wiederum ist immer sehr mürrisch - kein Wunder, seine Frau, mit der er in einer Woche seit 60 Jahren verheiratet ist, wird gerade am Herzen operiert, und sowas lässt einen nicht kalt.

Eine alte Weisheit, die allerdings fast immer stimmt: Wenn man sich für Menschen tatsächich interessiert, kann es passieren, dass sie einem die Seele öffnen. Und da sind häufig solche Schätze versteckt, dass sich der Zeitaufwand auf einmal mehr als lohnt. Nur schade, dass wir gerade aufgrund von Sommerferien so dünn besetzt sind, dass fast jeder Tag so verrückt ist und man nicht weiß, wo sich oben und unten befinden. Die versteckten Schätze müssen warten, mir bleiben nur noch fünf Minuten für die Visite.

Dienstag, 8. Juli 2014

House of God

"Vergiss Gefühle. Es geht nur ums Überleben"
HoG

"House of God" ist ein geniales Buch. Ich weiß, es gibt viele Leute, darunter auch Mediziner, die das Ganze für eine Übertriebenheit halten und der Geschichte demnach keinen Glauben schenken wollen. Ich sage nur: Glück gehabt.

Für mich ist das eine wahre Geschichte. Ich selbst habe das Buch schon zweimal gelesen und kann tatsächlich unter beinahe jedem Satz unterschreiben. Zu den meisten Charakteren lassen sich ohne weiteres Korrelate im realen Leben finden und - oh Schreck! - die Szenarien verlaufen meistens auch gleich, wie auf dem Papier, so in der Realität.

Das Zitat am Anfang ist mir zu einem Zeitpunkt eingefallen, der inzwischen schon von aktuelleren Geschehnissen vertrieben wurde. Es war, als mir ein Patient erzählte, wie er und seine Frau innerhalb weniger Monate zwei Kinder nacheinander verloren haben: Der Große ist im Beisein des Vaters mit dem Fahrrad verunglückt und der Kleine hat auf einer Müllheide Herzmedikamente gefunden und sich damit vergiftet.

Jetzt ist der Vater über 70 Jahre alt. Er kam zu uns, damit wir seinen Lungenkrebs diagnostizieren konnten. Er hängt sehr an seiner Frau, und hat am ersten oder zweiten Abend bei uns vor Verzweiflung geweint, weil er sie nicht anrufen konnte.

Diese Geschichte hat mich sehr mitgenommen. Ich habe zwar keine Kinder, aber ich kann mir vorstellen, wie schrecklich es ist, eins zu verlieren. In diesem Falle waren es ja sogar mehrere kurz hintereinander, aber auch das hat dem Schicksal nicht gereicht, der Vater musste noch Lungenkrebs kriegen.

Bei solchen tragischen Verläufen tue ich mich sehr schwer damit, meinen Glauben an die Welt nicht zu verlieren. Es erscheint sehr einfach, in einem See von Zynismus und bösen Sprüchen zu versinken, so Dr. House-mäßig, nur um sich selbst zu retten. In solchen Momenten denke ich an den Satz aus dem "House of God": "Es geht nur ums Überleben".

Doch wie gesagt, jüngere Geschehnisse haben diese Geschichte eher in den Hintergrund rücken lassen. Sie haben mir auch gezeigt, dass dieser Satz nicht nur im Hinblick auf Patienten und ihre Schicksale gilt.

Es wird häufig und gern gesagt: "Lehrjahre sind keine Herrenjahre". Aber wir wahr es ist, kann tatsächlich nur jemand begreifen, der ganz am Ende der Nahrungskette steht und nicht mehr über den Welpenschutz der Lehrlinge verfügt. Die Auswirkungen spüre ich nämlich immer wieder, wenn es um die Zusammenarbeit mit Ranghöheren geht.

Zum Glück ist es nicht mehr so gravierend, wie in meiner letzten Klinik, wo der Chefarzt seine Assistenzärzte wie Kakerlaken behandelte. Aber auch in meiner jetzigen Abteilung kommt es immer wieder vor, dass ich mal von einer überheblichen Praxisärztin am Telefon blöd angemacht werde oder Ärger kriege für die Entscheidungen, die ich gar nicht getroffen hatte. Ich habe noch nicht die ausgefeilten Schutzmechanismen entwickelt, um all die bösen Bemerkungen sofort wieder abschütteln zu können und kaue manchmal noch eine Ewigkeit darauf rum.

Was tun? Abstumpfen? So werden, wie Dr. House (den ich inzwischen in so mancher Hinsicht echt gut verstehen kann!)? Oder kämpfen? Mein Ziel vor den Augen behalten und daran glauben, dass ich es eines Tages erreiche. Und bis dahin, wenn es sein muss, Gefühle vergessen und überleben.

Donnerstag, 19. Juni 2014

Der klinische Blick

Was hat die Menschheit in den letzten Jahrhunderten nicht alles erreicht? Wir haben die kleinsten Lebewesen der Welt entdeckt, den Atom gespalten, alle Tiefen und Höhen dieser Erde besucht und waren sogar schon auf dem Mond! In der Medizin spürt man aber selten den technischen Fortschritt - es sei denn, es ist etwas, was den ganzen klinischen Alltag revolutioniert.

Ein Beispiel dafür hat Alexander Flaming geliefert, als er, statt die verschimmelten Petrischalen wegzuschmeißen, genauer hingeguckt und Penicillin entdeckt hatte: Damit wurde die Ära der Antibiotika eingeleitet, und unzählige Leben konnten gerettet werden.

Ein anderes Beispiel kommt aus Würzburg, wo Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm bebannten Strahlen entdeckte (ein Glück, dass er so einen deklinationsfreudigen Namen hatte, stellt Euch mal vor, der gute Mann hätte Leutheusser-Schnarrenberger gehießen!). Jahrtausende lang konnten die Ärzte sich nur auf ihre fünf Sinne verlassen, und plötzlich wurde es möglich, in einen lebendigen Menschen hineinschauen, ohne ihn aufschneiden zu müssen! Diese Entdeckung hat sich dermaßen in unser aller Alltag integriert, dass heute kaum eine Krankenhausbehandlung ohne ein Röntgenbild stattfinden kann.

Dies war allerdings erst der Anfang, der Anfang einer Medizin der Bildgebung. Nicht nur die Radiologen verdanken ihr ihr täglich Brot, auch Vertreter anderer Fachrichtungen greifen gerne zum Ultraschallgerät oder zum C-Bogen in der Unfallchirurgie. Vieles wäre heute ohne die bildgebenden Maßnahmen unvorstellbar: von Herzkatheter bis zur Tbc-Vorsorge, von Schwangerschaftsbegleitung bis zu neuen Hüften.

In dem großen Luxus der Radiologie versteckt sich allerdings eine Tücke: Wo der sechste oder siebte Sinn trainiert wird, gehen die anderen zugrunde. Es ist wie bei einem Bodybuilder: Denkt er nur an den Schultergürtel, wird sein Po schnell schlapp.

Und so ist es auch in der großen Kunst der klinischen Untersuchung. Wo unsere Vorgänger noch mit Stethoskop und ihren eigenen Fingern in null komma nix ein Pneumothorax* diagnostizieren konnten, wird heute ein Röntgenbild angeordnet. Zu Sicherheit hält man noch den Schallkopf an den Brustkorb und rätselt, was da alles auf dem Bild zu sehen ist, Luft oder keine Luft - bis der Oberarzt aus der alten Schule sein altes Hörrohr aus der Tasche zieht und sofort die richtige Diagnose stellt.

Wir haben uns zu sehr von den Gerätschaften abhängig gemacht und das Gespür für das menschliche Wesen, unseren Patienten, verloren. Heute ist mir etwas passiert, was mich in dieser Überzeugung nur weiter gestärkt hat: Nach der Frühbesprechung bat mich eine Kollegin, eine Patientin, der es nicht gut ging und die in den frühen Morgenstunden Blut erbrochen hat, zur Magenspiegelung zu begleiten - sie sei so schlecht, dass unbedingt ein Arzt mit dem Transport mitgehen muss.

Die Patientin, eine kleine Frau mit einem durchmetastasierten Lungenkrebs, saß weit nach vorne gebeugt in ihrem Bett und ragte sichtlich nach Luft. Man hörte ihre Lunge quitschen und pfeiffen, und als ich mein Stethoskop einsetzte, schieß mir auch lautes Brodeln ins Ohr. Die Dame war sichtlich erschöpft und riss sich immer wieder die Sauerstoffmaske vom Gesicht, um nach "frischer Luft" zu schnappen - wie frisch sie eben im Krankenzimmer war.

In der Endoskopie angekommen, schaute uns der zuständige Oberarzt mit riesengroßen Augen an: "Gastroskopie? Hier? Seid Ihr verrückt geworden???" Nur schade, dass der Transport inzwischen weg war, wir mussten fast eine halbe Stunde auf die Jungs warten. Ein Ausflug über fast anderthalb Stunden - für nix und wieder nix.

In der Zwischenzeit wurde die Luftnot auch nicht besser. Die Patientin quälte sich zusehends. Ich habe versucht, sie ein bisschen zu beruhigen und aufzumuntern, aber es hat sehr wenig gebracht.

Die verlorene Zeit ärgerte mich sehr. Ich wollte mit der Kollegin, die die Untersuchung angeordnet hatte, ein ernsten Wörtchen reden. Doch zu meiner Überraschung wehrte sie sich gar nicht: Sie halte die Magenspiegelung auch für übertrieben, die Oberärztin habe sie haben wollen, weil die Patientin ja heute früh Blut erbrochen hat.

Auf meiner geliebten ITS (von der ich hier schon etliche Male schwärmte) habe ich in der ersten Famulatur etwas ganz wichtiges gelernt, dessen Bedeutung mir in dem Moment noch nicht klar war. Bei der Visite am Bett mit einem sterbenden Patienten meinte der erfahrene Oberarzt (der von der alten Schule) zu mir: "Schau Dir den Mann genau an. Siehst Du, dass er krank ist?" Ich habe damals nur gedacht: Na klar, ist er krank, sonst wäre er ja nicht hier, versuchte aber trotzdem, dieses gewisse Etwas mit meinen Augen und Ohren festzuhalten, das den Unterschied zwischen einem kranken und einem gesunden Menschen ausmacht. Und das war der erste Schritt auf dem langen Weg der Entwicklung meines eigenen Röntgenblicks.

Ich bin da überhaupt nicht weit fortgeschritten: Wie gesagt, fange ich jetzt erst damit an, meine Sinne zu schärfen. Aber ich bin froh, dass ich die Wichtigkeit dieser Entwicklung entdeckt habe, denn so kann ich tatsächlich bewusst auf das Erscheinungsbild meiner Patienten achten und sie nicht mit unsinnigen Untersuchungsaufträgen belasten.

Die Patientin ist ungefähr eine Stunde nach unserer Rückkehr aus der Endoskopie verstorben. Es tut mir sehr leid, dass sie an ihrem letzten Morgen auf dieser Welt hin und her gefahren werden musste, aber ich hoffe, ich habe sie auf ihrem Weg mehr oder weniger anständig begleiten können.

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* - eine Ansammlung von Luft zwischen den Lungenblättern, die bei größeren Mengen zu einem Zusammenfallen der Lunge führen kann.

Montag, 9. Juni 2014

Bis zum bitteren Ende

Ich habe, glaube ich, schon mal hier im Blog darüber geschrieben, dass Tod nun mal auch ein Teil des Lebens ist und es umso wichtiger ist, den richtigen Moment zu erkennen, um den Menschen einfach gehen zu lassen.

Damals habe ich diesen Eintrag vom Standpunkt einer Studentin verfasst, die zwar die Patienten mitbetreut, aber doch nicht die volle Verantwortung übernehmen kann. Diese Konstellation hat sich jetzt geändert.

Seit einem halben Jahr bin ich nun approbierte Ärztin (und darf ganz offiziell Blutprodukte anhängen). Seit 4,5 Monaten berufstätig. Seit 5 Wochen auf einer Station, auf der vorwiegend Patienten mit Lungenkrebs behandelt werden. Und jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich an meine Grenzen stoße.

Als ich damals die Kliniken gewechselt habe, habe ich mich über diese Entwicklung sehr gefreut. Zu dieser Meinung stehe ich immer noch: Der Wechsel war auf jeden Fall richtig und ich bereue ihn keineswegs. Doch durch diese Veränderung bin ich einem Aspekt des Ärztedaseins begegnet, mit dem ich bisher nur wenig Erfahrungen sammeln konnte: der Behandlung unheilbar kranker Menschen.

Ich sage dabei ganz mutwillig nicht palliativ* - denn diesen Begriff verbinde ich sehr starkt mit Hospizen und Sterbebegleitung bei Menschen, die kurz vor ihrem Ende stehen und quasi dem Sensemann schon ins Gesicht blicken. Nein, meine Patienten sind zum größten Teil voll Lebensfreude, fallen manchmal bis auf einen kahlen Kopf gar nicht negativ auf und haben wie viele andere auf ihrem Nachttisch Bilder von Kindern und Enkelkindern stehen. Nur durch eine kleine unscheinbare Sache unterscheiden sie sich vom Rest der Bevölkerung: Irgendwo in ihrem Körper hat sich eine Gruppe von Zellen verselbstständigt und wächst unkontrolliert. Wir kennen diesen Prozess als Krebs.

In der kurzen Zeit, die ich bisher auf dieser Station verbracht habe, habe ich unterschiedliche Sorten von Patienten kennegelernt. Da ist eine Frau im mittleren Alter, die erst sein kurzem einen neuen Freund hat und mit ihm ein Haus an der Ostsee bauen will - nur dumm, dass sie auf einmal diese Erkältung kriegt und die Ärztin auf dem Röntgenbild eine komische Verdichtung in der linken Lunge erkennt: Krebs. Als wir das erste Mal zur Visite kommen, fängt sie an zu weinen, weil ihr auf einmal klar wird, dass sie bald sterben könnte. Zwei Wochen später kommt sie zum esten Zyklus der Chemotherapie und hat in der Zwischenzeit etwas Kräfte gesammelt: Sie blickt jetzt entschlossen in die Zukunft und will nicht aufgeben (egal, was das komische Gewächs in ihrem Brustkorb sich dabei denken mag).

Da ist ein älterer Mann, für den die Diagnose schon ein Weilchen her ist: Er hat inzwischen fünf Zyklen Chemotherapie absolviert und sich an die häufigen Krankenhausaufenthalte und die (ziemlich krassen) Nebenwirkungen der Medikamente gewöhnt. Eines Tages trägt er bei der Visite ein weißes T-Shirt, auf dem kleine farbige Hände- und Fußabdrücke verteilt sind. "Die sind von meinen Enkelkindern", - erzählt er mit Stolz. (Dass ich dieses schöne Geschenk beim Pieksen gleich mit einem Fleckchen Blut versaue, ist mir bis heute oberpeinlich.)

Da ist ein anderer Mann, etwa 10 Jahre junger. Bei ihm wurde auch soeben Lungenkrebs diagnostiziert, doch er bleibt gefasst: Er habe sein ganzes Leben lang geraucht und das nie aufgeben wollen, daher sei er jetzt daran selber Schuld. Bald wird er wieder kommen und wir beginnen mit der Chemotherapie.

Und schon wieder ein Mann: in den vierziger Jahren geboren, vom Kopf bis Fuß durchtätowiert (ernsthat, sogar auf den Oberschenkeln hat er noch Bilder!). Seit März lebt er mit seiner Diagnose und hat inzwischen zwei Zyklen Chemo bekommen. Leider ist seine Krebsart besonders aggressiv und noch vor dem zweiten Zyklus sehen wir im Kopf-MRT zahlreiche Knochenmetastasen, die sich nach der ersten Chemogabe demaskiert haben. Er ist auch nicht mehr der jungste und verträgt den zweiten Zyklus leider nicht so gut. Meine Kollegin sagt bei der Visite: "Da müssen wir sehen, ob wir den dritten überhaupt noch geben", und für mich klingen diese Worte wir ein Todesurteil: Ohne die Medikamente, egal wie schwach sie einen machen, hat dieser Mann nur wenige Monate zu leben. Sie sieht mir meine Reaktion an und erklärt ganz ruhig: Egal, was wir machen, er hat höchstens noch 18 Monate zu leben.

Da wird mir einiges klar: Es spielt keine Rolle, wie sehr man sich mit seinen Patienten anfreundet. Eine Sache darf man nie vergessen: Auch wenn sie jetzt noch gesund wirken, so sind sie nicht und werden es nie wieder werden. Und unsere Aufgabe ist nicht, ihr Leben mit Maschinen und Geräten zu verlängern, sondern versuchen, ihnen mehr Freude und Energie im Hier und Jetzt zu geben. Und das bis zum bitteren Ende.  

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* - praktisch das Gegenteil von "kurativ" ("heilend"), eine Therapie, die nicht auf die Heilung ausgerichtet ist, sondern nur auf die Linderung der Beschwerden (z.B. durch Schmerzmittel) - wiki

Donnerstag, 15. Mai 2014

Kurze Meldung zwischendurch

Um meinen armen Blog zu reanimieren, will ich hier nur sagen: Hallo, ich bin hier und ich schreibe hier weiter! :-)

Das Neueste: Seite dem 1. Mai bin ich in der neuen Klinik und an sich schon recht zufrieden. Es gibt hier viele Vorteile, die ich in der alten Arbeit nicht hatte:

* regelmäßige Fortbildungen - ehrlich, bereits in der ersten Woche habe ich so viele Weiterbildungspunke eingesammelt, wie in den ganzen 3 Monaten davor!
* mehr oder weniger geregeltere Arbeitszeiten - diese Power-Schichten von 12-13 Stunden, die ich in der alten Klinik machen musste, gab es hier zum Glück noch nicht! Ganz im Gegenteil, ich musste bisher nur selten mehr als 1 Stunde länger bleiben
* vernünftige Einarbeitung! Eine Fachärztin, die mir alles zeigt und erklärt und auch später mit Rat und Tat zu Seite stehen wird!
* erste Wochenend-/ Nachtdienste nicht früher als nach 3 Monaten Arbeit - theoretisch also im August, der ist aber schon voll, also - September!
* Stationssekretärin, die sich eben um Sekretärinnenarbeit kümmert: Kopien, Faxen, Termine etc. etc.
* der Chefarzt bedankt sich nach der Visite
* Medizin wie in der Uniklinik aber ohn diesen verrückten Hochbetrieb - die Leute dort sind wirklich Profis, und das sieht man ihnen an

Aber auch, wie es so im Leben ist, einige Nachteile:

* eine Kollegin, die immer wieder versucht, ihre Arbeit auf mich oder die besagte Fachärztin umzuschieben
* das Arbeitsklima und die Zusammenarbeit mit den Schwestern ist leider auch etwas verbesserungswürdiger - hier wird, z.B. nicht zusammen gegessen und auf der Visite ist man auch alleine, schade
* für den Arbeitsweg brauche ich ein bisschen länger, was sich aber noch weiter verschlimmern wird, wenn ich im Herbst umziehe
* Blutentnahmen! Blutentnahmen!!! Ich dachte schon, ich wäre sie los...
* ein sehr, SEHR gewöhnungsbedürftiges Dokumentationsprogramm! Weit und breit nicht so selbsterklärend wie manch anderes
* keine Kantine und dementsprechend keine Möglichkeit für ein Mittagsessen (es sei denn, man bedient sich in der Patientenküche, wenn das Essen ausgeteilt wurde, und nimmt sich ein paar Reste - die schmecken auch nicht schlecht)

Na ja, ich will ja auch nicht zu voreilig Schlüsse ziehen. Zwei Wochen sind schon vorbei, es bleiben noch 154 bis zum Ende des Vertrags...

Montag, 21. April 2014

Jenseits des weißen Kittels, Teil 1

Seit fast 3 Monaten bin ich nun berufstätig. Und der Einstieg verlief leider nicht wie geplant.

Angefangen damit, dass ich bereits im Oktober die ersten Bewerbungen verschickt habe und mich gerade auf die vielen Einladungen zum Gespräch oder schon die Stellenangebote freute - so einen Eindruck von der Berufswelt hatte ich zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall, da wir während des Studiums in jeder zweiten Vorlesung hörten: "Ach, was Ihr jetzt für eine entspannte Situation auf dem Berufsmarkt habt!" Doch, wie eine gute Freundin zu sagen pflegt, Pustekuchen!

Die Stellenangebote blieben zu meiner Überraschung ganz aus. Nicht mal zu den Bewerbungsgesprächen wurde ich viel eingeladen: nach 20 verschickten Bewerbungen gerade mal drei Einladungen! Die Realität sah also ganz anders aus.

Die Stelle beim ersten Gespräch war nicht so ganz, was ich ursprünglich haben wollte. Doch der Chefarzt war so nett, dass ich mich für seine Klinik auch sehr begeistert habe. Leider habe ich seitdem nie was von der Abteilung gehört. Schade.

Das zweite Gespräch bekam ich am wahrscheinlichsten durch das berühmte Vitamin B: die Beziehung. Bei der zweiten Einzelprüfung meiner Doktorarbeit lud mich der Prüfer praktisch ein, mich in seiner Klinik zu bewerben und dort anzufangen. So war das Ergebnis irgendwie auch logisch: Der Chefarzt wusste schon nach knapp 45 Minuten, dass er mich anstellen möchte und übergan das weitere Prozedere an den leitenden Oberarzt. Ihm konnte ich es endlich sagen, dass ich noch gar nicht ausgelernt bin und mich eigentlich kurz vor der mündlichen Prüfung befinde. Na gut, ich solle mich dann nach der Prüfung melden, war die Antwort. Als ich das aber getan habe (zusammen mit der Nachricht, dass ich für 10 Tage im Urlaub bin, weil ich im Vorstellungsgespräch keine Möglichkeit hatte, das zu erwähnen), hieß es auf einmal: "Die Stelle ist jetzt eingefroren, manchmal muss man eben zugreifen". Irgendwie blöd, auch wenn ich in dieser Klinik nicht so wirklich gerne angefangen hätte.

Das dritte Gespräch war vorerst das beste von allen: Der Chefarzt zeigte mir höchstpersönlich die Klinik und wir waren voneinander sehr begeistert. Er sagte mir sogar zwischen den Blumen, dass er mich auch gerne anstellen würde. Neben der Tatsache, dass man dort viel Funktionsdiagnostik lernen könne und die Klinik allen Assistenzärzten den Notarztkurs bezahle, war ich auch von dem anscheinend netten Chefarzt angetan und habe meine Entscheidung getroffen: Dort will ich anfangen.

Und dann kam das lange Warten: Die endgültige Zusage verzögerte sich. Ich habe dann noch von mir aus eine E-mail geschrieben und gefragt, ob ich hospitieren kommen kann, erst dann antwortete der Chefarzt und wir vereinbarten einen Termin.

Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass ich mir diese Hospitation genauso hätte sparen können. Da es die allererste ihrer Art war und ich als Berufsanfängerin noch gar keine Ahnung hatte, worauf dabei Wert gelegt wird, waren es verlorene 8 Stunden. Ich habe dabei versucht, mich von der besten Seite zu zeigen und gar nicht darauf geachtet, die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse in der Klinik rauszufinden.

Und so kam es wie es kam. Ich habe zwar in dieser Klinik zum 1. Februar angefangen (wobei mir die Stelle am 21.01 von der Personalabteilung abgesagt und erst am 31.01, also am Tag vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn endlich zugesagt wurde -  und dann auch bloß nur für ein Jahr!), habe aber recht schnell rausgefunden, an wievielen Stellen mich die Geschehnisse dort stören und dass ich meine Facharztweiterbildung dort gar nicht verbringen will.

Hier erzähle ich mal etwas ausführlicher. Die Klinik für Innere Medizin, wo ich gerade bin, gehört zu einem kleinen Kreiskrankenhaus in den Wäldern Brandenburgs. Es gibt drei Stationen, einen Funktions- und Endoskopiebereich sowie eine große Rettungsstelle. Die Stationen sind nicht nach Fach unterteilt, sondern beinhalten alle möglichen Krankheitsfälle der Inneren Medizin querbeet: In einem Zimmer kann ein Patient mit Angina pectoris-Syndrom* neben einem anderen mit Magengeschwüren oder Lungenentzündung liegen.

So eine Konstellation ist an sich natürlich nichts schlimmes: Dadurch kann man eben die häufigsten Krankheitsbilder der ganzen Innere Medizin lernen und hat einen guten Überblick. Das Problem, das ich aber erst nach dem Arbeitsbeginn (leider, leider!) rausgefunden habe, ist, dass in dieser Abteilung sehr wenig Wert auch Weiterbildung gelegt wird.

Im Gegensatz zu den honigsüßen Reden des Chefarztes im Vorstellungsgespräch befand sich auf meiner Station kein Facharzt, der mich ausbilden könnte. Au contraire: Am dritten Tag wurde ich mit meinen 16 Patienten alleine gelassen und durfte dann auch schon alleine die Visite leiten und das weitere Vorgehen bestimmen. Schon recht sportlich, finde ich.

Die andere Stationsärztin, die auf ihrer Seite für ganze 18 Patienten zuständig war, befand sich auch noch in Probezeit. Sie hat sich zwar enorm Mühe gegeben, mir alles beizubringen, was sie selbst weiß, aber es gab auch schon Momente, bei denen wir beide einfach überfragt waren. In solchen Situation kann - und soll man sich eigentlich an den Oberarzt wenden. Unsere Chefin war aber in der Funktionsdiagnostik so sehr angebunden, dass sie kaum noch Zeit für uns hatte. Und so waren wir wiederum auf uns alleine gestellt, denn - wie schon gesagt - der versprochene Facharzt fehlte.

Dadurch haben sich im ersten Monat natürlich unglaublich viele Überstunden bei mir eingesammelt. Als ich sie mit meinem ersten Gehalt dann verrechnet habe, kam ich auf unglaubliche 5€/h. Dafür sollte man unbedingt 6,5 Jahre studieren!

Meine Frustration wurde umso größer, als ich mitbekommen habe, wie eine andere Kollegin eingearbeitet wird, die ebenfalls Berufsanfängerin ist und mit mir gemeinsam ihre Stelle zum 1. Februar angetreten hat. Nur ein Beispiel: Ihr Oberarzt machte sich Sorgen, dass sie nur nach 3 Wochen Berufserfahrung so um die 12-14 Patienten betreuen sollte: Das könne man doch von einer Anfängerin nicht erwarten!

Als meine Oberärztin den Chefarzt am selben Tag in der Visite auf diese doppelten Standards ansprach, würgte er sie nur ab: "Nein, das machen wir nicht". Und so war das Thema gegessen und ich durfte weiterhin 3-4 Überstunden pro Tag machen und mir fast alles selbst beibringen.

Nebenbei bekam ich vom Chefarzt nur Anmerkungen wie "Sie sollen doch die Zeiten einhalten" - als ich zur Mittagsbesprechung 5 Minuten zu spät kam - und lernte in den Chefvisiten als einziges nur, dass ich Konsile erst nach der oberärztlichen Absegnung anordnen darf. Endgültig zu viel wurde es aber, als er eines Tages nach der Frühbesprechung alle meine Überstunden aus dem Februar gestrichen hat. Da platzte bei mir echt der Kragen. Am nächsten Tag reichte ich meine Kündigung ein.

Hier muss ich sagen, dass es sich dabei um Glück im Unglück handelt. Als ich von der Personalabteilung im Januar die Absage bekommen habe, machte ich mich umso intensiver an die weitere Arbeitssuche und schickte Lebensläufe und Bewerbungen wie verrückt aus. Ende Februar und Anfang März kamen dann auch die Antworten und ich wurde zu einigen Gesprächen eingeladen. Bei einem davon bekam ich nur zwei Tage später schon die Zusage zum 1. Mai und eine Woche später den Vertrag zugeschickt.

Und so hat sich alles doch noch zum Guten gewendet: Jetzt klappt der nahtloser Übergang und ich kann meinem jetzigen Chefarzt die lange Nase zeigen und sagen: "Hier wird der Schlussstrich gezogen! Bis hierher - und nicht weiter!"

Bleibt dran, ich werde im Mai auf jeden Fall schreiben, wie es mit der neuen Stelle losgegangen ist!

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* Angina pectoris-Syndrom - wortwörtlich "Brustenge", Symptome bei einer unzureichenden Sauerstoffversorgung des Herzmuskels

Freitag, 10. Januar 2014

Eine neue Tradition? Niemals!!

Es könnte vielleicht so aussehen, dass meine länger andauernde Abwesenheit nach einem Eintrag, bei dem ich verspreche regelmäßig zu schreiben, zu einer Art Tradition wird. Dem will ich nun entschieden entgegenwirken!!

Also, an erster Stelle: frohes neues Jahr an alle mit besten Wünschen!! Ich hoffe, die Feiertage waren schön und Ihr seid gut in das neue Jahr gerutscht.

Ich habe es auf jeden Fall getan! Seit dem letzten Eintrag sind schon ein paar Monate vergangen und dabei ist ordentlich viel passiert.

Ganz wichtig: Ich habe die schriftliche Prüfung bestanden!!! Man muss schon sagen, dass ich sie wirklich schwer fand. Alleine die Fragen an sich können einen schon aus der Fassung bringen, dazu kommt noch, dass man sich fünf Stunden am Stück höchst konzentrieren muss und das drei Tage lang! Es war für mich ungefähr so, als würde ich versuchen, Marathon mit der Spitzgeschwindigkeit eines Sprinters zu laufen.

Nicht zu vergessen ist der menschliche Faktor. Unglaublich aber wahr: Es gibt unter den Aufsichtsleuten immer noch einige, denen der Sinn einer Prüfung verborgen bleibt. An zwei Tagen von dreien hatten wir solche Exemplare: Während sich die ganze Truppe im kleinen Raum versucht zu konzentrieren, wird vorne getuschelt, die letzten Nachrichten und Eindrücke von den Geschehnissen werden ausgetauscht. Tja, mit Sicherheit kann man sagen, dass in der Aufsicht keine Ärzte saßen: Niemand, der das durchmachen musste, würde auf die Idee kommen, nur einen Pieps von sich zu geben!

Umso größer war aber dann die Erleichterung, als diese drei Tage vorbei waren! Im Hof stieg die Stimmung: überall glückliche Examenskandidaten, Sekt, Bier, andere Getränke und Freunde, die einen abholen kommen. Das Fest der Freude nach der Prüfung war es wert, um das Ganze über sich ergehen zu lassen.

Anders als viele Freunde von mir hatte ich den Termin für die mündliche nicht direkt danach und konnte mich also erst mal herrlich entspannen, einen ganzen Monat lang. Dann fing die Vorbereitung wieder an - ein Monat dafür sollte reichen, dachte ich.

Ich habe aber ganz vergessen, dass noch viele andere Sachen im November zu erledigen sind: Bewerbungen und Doktorarbeit. Das hat mir schon ein wenig Zeit von der Prüfungsvorbereitung geklaut. Aber darüber erzähle ich lieber ein anderes Mal, ansonsten wird diese unendliche Geschichte keiner mehr zu Ende lesen können :-)

Wir bleiben also beim Hammerexamen. Mit dem mündlichen Teil hatte ich schon ordentlich Glück. Erstens, war das zugeloste Fach Anästhesie (und nicht Gyn oder Radio, von denen ich nun wirklich keine Ahnung habe!), was mir sowieso immer gut gefallen hat und wo ich sogar einmal famuliert habe. Das hat mir schon einen großen Teil von Angst genommen. Und zweitens, war unser Prüfer in der Inneren Medizin und gleichzeitig Prüfungsvorsitzender der Chefarzt von der Intensivstation, wo ich mein Innere-PJ-Tertial hatte!! Ich weiß nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sowas mal passiert, aber für mich ist es wie ein Sechser im Lotto.

Dementsprechend war die mündliche Prüfung für mich wie ein Heimspiel :-) Das hatte aber auch seine Kehrseite: Ich wollte nur die allerbeste Leistung abliefern, damit der Prüfer, der mich ja schon kannte, nicht von mir enttäuscht werden würde.

Deshalb habe ich versucht, sein Fach am intensivsten zu lernen (abgesehen davon, dass ich Intensivmedizin sowieso am interessantesten finde!) und mich auch in den anderen Fächern gut vorzubereiten. Und das hat voll reingehauen: eine "eins" in der mündlichen, unglaublich! Jetzt habe ich doch noch einen Abschluss mit "gut" geschafft, auch wenn der schriftliche Teil eher mau ausgefallen ist und mir nur 10 Fragen für eine "zwei" gefehlt haben.

Jetzt versuche ich mich daran zu gewöhnen, dass ich jetzt Ärztin bin! Ein kompletter Wandel, muss ich schon sagen. So ganz habe ich es noch nicht begriffen, das wird, glaube ich, erst kommen, wenn ich tatsächlich anfange zu arbeiten. Als erstes muss ich noch durch die Berge des Papierkrams durch: Anmeldung bei der Ärztekammer, im Ärzteversorgungswerk, ein neues Bankkonto etc. etc. Aber - wenn ich schon das Hammerexamen geschafft habe, werde ich das hoffentlich auch hinkriegen!