Es ist irgendwie eine Tradition, dass man am Ende des Jahres
an eine – schon relativ willkürliche, wenn man’s bedenkt – Grenze kommt und
alles, was sich in der letzten Zeit ereignet hat, Revue passieren lässt. So bin
ich jetzt auch an einem Punkt angekommen, wo ich viel über das vergangene Jahr
und wie es mich verändert hat nachdenke.
Viele der wesentlichen Punkte habt Ihr ja auch hier im Blog
mitbekommen – und ich bin nach wie vor sehr froh, dass ich mich über diese
Plattform äußern kann. Einen Gedanken möchte ich allerdings noch vor dem
Jahresende loswerden, und er passt leider nicht in die heitere
Weihnachtsstimmung.
Zu Beginn meines Studiums habe ich ein Buch geschenkt
bekommen, das genau so wie die Überschrift dieses Eintrags heißt. Es geht darin
um die Geschichte der Medizin – vom Altertum bis in die heutigen Tage. Es ist
wirklich ein sehr gutes Buch, vor allem weil es einen zum Nachdenken bringt und
viele Zusammenhänge – auch in heutigen Behandlungsmethoden – klar werden lässt.
An dieses Buch denke ich in den letzten Tagen immer wieder, denn nun bin ich
lange genug Ärztin, um den Erfolg – oder aber Misserfolg – meiner Handlungen zu
sehen.
Im Studium selbst lernt man unheimlich viel Gutes und Nützliches.
Wie ist die Energieaufnahme der Zelle aufgebaut? Welche genetischen Störungen
kann man klinisch erkennen? Wenn die Erst- und Zweitlinienmedikation bei M.
Parkinson nicht funktioniert, worauf kann man noch zurückgreifen?
Um solche Informationen zu verinnerlichen, besuchen wir
zahlreiche Vorlesungen und Seminare, üben tagelang am Krankenbett und werden
anschließend vom IMPP drei Tage lang unter die Lupe genommen. Dann kommt der
klinische Alltag – und die Welt steht plötzlich Kopf.
Keine Frage, je mehr man im Studium gelernt und verstanden
hat (und vor allem je mehr von diesen gelernten Informationen dann auch in
einer Stresssituation schnell verfügbar sind), desto leichter wird einem der
Einstieg in den Arztberuf fallen. Doch das theoretische Wissen ist noch nicht
alles.
Wenn ich an positive Erfahrungen dieses Jahres denke, fällt
mir mein persönlicher Lerneffekt „Lungenödem“ ein. Zwei Mal musste ich einen
Patienten mit diesem akuten lebensbedrohlichen Krankheitsbild sehen, einmal
verkannt haben, einmal den an seinem letzten Tag angekommenen, dem
durchmetastasierten Krebsleiden erlegenen Patienten bewusst dahin gleiten
lassen, um es beim dritten Tag richtig diagnostiziert und behandelt zu haben. Das
ist der Ausdruck des lebenslangen Lernens – ich kann jetzt davon ausgehen, dass
ich beim nächsten Mal noch schneller die Entscheidung treffen und die Therapie
einleiten werde.
Wie schön es auch sein kann, Menschenleben zu retten, so
bedrückend ist es auch, ein näheres Ende herbeizurufen, ob direkt oder
indirekt. Ich spreche jetzt nicht von der aktiven Sterbehilfe – auch unsere
besten Therapieansätze können für einen kranken Körper zu viel sein. In den
meisten Fällen ist es die Chemotherapie, die anstatt das Leben zu verlängern
dieses nur verkürzt.
Ich bin nun lange genug auf der Krebsstation, um meine
Patienten, die ich im Frühling oder Sommer so voller Energie und Lebensfreude
kennenlernte, heute mit kahlen Köpfen, kraftlos, energielos, von Nebenwirkungen
gequält zu sehen. Viele, bei denen wir damals die Therapie einleiteten – und eigentlich
guter Dinge waren – sind heute nicht mehr. Häufig passiert es ganz allmählich,
die Kräfte schwinden Tag um Tag, sodass der Mensch irgendwann einfach nicht
mehr leben mag, aber manchmal kommt das Ende von jetzt auf gleich.
Noch gestern habe ich diesen Patienten visitiert und wie
haben über das weitere Vorgehen nach der Entlassung gesprochen, und heute liegt
er in einer Blutlache, weil der Tumor den Übergang zur Lungenarterie endlich
geschafft hat. Vor einer Woche wollte ich jenen Patienten anrufen, um mich für
die kleine Aufmerksamkeit von ihm zu bedanken, und heute morgen ist er nicht
mehr aufgewacht. Am Freitag haben wir einen Patienten auf die Intensivstation
mit einem akuten Nierenversagen verlegt, heute kam er zurück, entwickelte kurz
darauf eine akute Luftnot und war binnen kürzester Zeit dahin.
Solche Fälle, wo keiner von uns mit einem baldigen Ende
gerechnet hat, gehen mir unheimlich nah. Ich nerve dann jeden, den ich nur
erreichen kann mit meinen Gedanken und Gefühlen, und kann bei manchen meinen
Patienten bis heute nicht loslassen. Immer und immer wieder gehe ich meine
Handlungen im Kopf durch: Haben wir alles richtig gemacht? Haben wir an alles
gedacht? Warum ist der Patient dann trotzdem gestorben?
Ich habe ja hier auch schon mehrmals zum Thema Tod
geschrieben. Dass man den richtigen Moment erkennen muss, dass jeder von uns
nur Gast auf dieser Erde ist, dass wir Menschen nicht imstande sind, über
anderer Menschen Leben zu entscheiden. Es ist ja alles schön und gut, nur was
mache ich jetzt? Ich kann Feierabend machen und nach Hause gehen, aber irgendwo
sonst in dieser Stadt, gar nicht so weit von hier, kommt nach dem heutigen Tage
keiner mehr heim.
