Donnerstag, 13. November 2014

Never say never

Vor langer, langer Zeit (ich glaube, es war so im fünften Semester) fand ich einen Nebenjob als Nachtwache in einem schicken Altersheim direkt am Kudamm. Die Arbeit an sich war so lala (vor allem die Bezahlung war total mau - für einen achtstündigen Nachtdienst bekam ich gerade so 56 €), aber manche Bewohner habe ich echt ins Herz geschlossen, und das half mir durch.

Eine von ihnen, mit der ich mich am besten verstand, war eine 101-jährige Dame, die wie eine Lokomotive rauchte, aber nach wie vor einen kristallklaren Verstand besaß. Sie war klein und zierlich, und während ich ihre Beine für die Nacht von den Kompressionsstrümpfen befreite, erzählte sie mir aus ihrem Leben: Wie sie über 50 Jahre eine Wohnung nicht weit von hier bewohnte, wie Berlin sich im Laufe ihres Lebens veränderte, wie ihr "lieber Vati" als Ingenieur zur Jahrhundertwende Flugzeuge mitentwickelte und noch viel mehr.

Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hat seitdem nie geheiratet. Kinder hatten sie keine, und so widmete sie sich ihren zahlreichen Nichten und Neffen. Die meisten von ihnen leben in der ganzen Welt zerstreut, kaum jemand ist in Berlin geblieben.

An dieser Freundschaft erfreute ich mich sehr. Und für die alte Dame bin ich auch zu einer Bezugsperson geworden. Ab und zu hatte sie Zeiten, bei denen sie sich nicht wohl fühlte, und sie bat mich dann, auch in der Nacht nach ihr zu sehen. Jedes Mal, als ich es wirklich tat, erhellte sich ihr Gesicht und sie schlief danach friedlich ein (das erzählte sie mir dann immer bei der nächsten Begegnung).

So nett und lieb, wie meine kleine Freundin auch war, konnte ich früher oder später keinen Spaß mehr an der Arbeit im Altersheim finden und bin gegangen. An meinem letzten Abend dort, als ich sie wie immer aufsuchte, um sie bettfertig zu machen, war sie viel bedrückter als sonst und sehr traurig. Ich werde ihr fehlen, hat sie gesagt, und schenkte mir einen kleinen Schutzengel, der die ganze Zeit davor auf ihrem Nachttisch stand.

Ich habe versprochen, sie anzurufen, und hatte es die ganze Zeit danach auch fest vor. Nur kam dann aber der Jobwechsel, ich musste mich bei der anderen Stelle (im Schlaflabor) ordentlich einarbeiten, und habe den Anruf immer wieder verschoben. Im Juli hatte meine Freundin Geburtstag, und ich war schon Monate davor dazu eingeladen worden. Kurz davor habe ich gedacht, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo ich zum Telefon greifen und die bekannte Nummer wählen soll: Das Gespräch darf nicht verschoben werden!

Doch als ich anrief, ging keiner ran. Ich habe es wieder und wieder versucht, auch an anderen Tagen - ohne Erfolg. Meine Hoffnung war, dass sie vielleicht im Krankenhaus ist - an das Schlimmste wollte ich nicht denken.

Ein paar Monate danach traf ich einen Arbeitskollegen in der Bahn. Ein wenig Small-talk - na, wie geht's, alles klar - bis ich die Frage stellte, was mit der kleinen Dame passiert ist. Die ist schon längst gestorben - war die Antwort. Nach meiner Kündigung habe sie angefangen, rapide abzubauen - körperlich wie geistig - und war binnen kurzer Zeit dahin.

Ich hatte es die ganze Zeit befürchtet, und trotzdem traf mich diese Nachricht wie ein Schlag. Es war so, als hätte in diesem Moment jemand das Wort "Nimmermehr" in mein Ohr geflüstert - wie in diesem Gedicht von Poe.

Der kleine Schutzengel steht immer noch in meinem Wohnzimmer. Ich hatte mir damals geschworen, dass ich nie wieder etwas verschieben werde, niemals.

Diesen Eintrag hier schreibe ich jetzt, weil ich das doch getan habe. Ein Patient, den ich im Juni kennenlernte und der mir seitdem sehr ans Herz gewachsen war, ist letzte Woche verstorben. Kurz davor war er noch bei uns auf Station vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen - da war ich aber im Urlaub, und er hat ein kleines Geschenkkörbchen hinterlassen. Ich hatte seitdem die ganze Zeit vor, ihn anzurufen um mich zu bedanken - und habe es nicht getan.

Gewissensbisse habe ich jetzt reichlich. Aber was hilft es denn? Hätte ich bloß zur richtigen Zeit zum Telefon gegriffen - nun ist der Augenblick vorbei. Das einzige, was ich machen kann, ist allen in meiner Reichweite diesen einen Gedanken ans Herz zu legen: Haltet den Moment, vertagt nichts und sagt Euren Lieben, dass Ihr sie lieb habt, jedes Mal, wenn Ihr es könnt. Denn es wird früher oder später die Zeit kommen, bei der der Rabe das Wort ergreift: "Nimmermehr".

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