Neulich habe ich in der Bahn ein Werbeplakat gesehen, darauf war ein schönes Bild mit einem Segelschiff. Dieses Bild hat mich zu einem Gedanken gebracht, der mich bis heute beschäftigt.
Ich komme aus einem Ort, der vielleicht von allen Orten dieser Erde am weitesten enfernt von einem großen Gewässer liegt. Ernsthaft, wenn ich die Weltkarte betrachte, die direkt über meinem Schreibtisch hängt, sehe ich dort genau in der Mitte des eurasischen Kontinents einen Punkt. Das ist meine Heimatstadt, da komme ich her. Das ist ein Punkt, der vom Golf von Bengalen genauso weit entfernt ist wie vom Nordpolarmeer, und vom Kaspischen Meer genauso weit wie vom Pazifischen Ozean.
Woher kommt es denn, dass ich, seit ich mich erinnern kann, vom Meer träume? Als Kind habe ich ein Piratenbuch nach dem anderen gelesen, das schönste von allen - "Captain Blood" - bestimmt über 50 Mal. Ich habe den Weg des Schiffs "Duncan" aus "Die Kinder des Kapitän Grant" mit meinen Freundinnen nachgespielt - so ziemlich makaber, wenn ich jetzt daran denke. "Die Insel der Kapitäne", eine russische Kurzgeschichte, las mir meine Mutter vor, wenn ich krank war.
Umso verwunderlicher ist es jetzt, dass es von diesem kleinen Mädchen, das stundenlang der Stimme des Meeres in einer Muschel aus dem Pazifik zuhören konnte, so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist. "Captain Blood" liebe ich zwar nach wie vor (und keine Verfilmung dieser Welt kommt auch nur annähernd an meine Fantasie heran), habe das Buch aber schon seit Jahren nicht mehr angerührt. Ich kenne nicht mehr die Kontinente, die "Duncan" auf seinem Weg besuchte, und auch die schöne Insel weit weit weg, wo Kapitäne der Kinderschiffe hausen, ist aus meiner Erinnerung fast verschwunden.
Das schöne Schiff, das ich in der Bahn sah, machte mir deutlich, wie sehr ich mich in den letzten Jahren verändert habe. Ich weiß noch nicht, ob es eine Veränderung zum Guten oder zum Bösen war. Aber ich würde so gerne das Meer aus meinen kindlichen Vorstellungen wiedersehen - und einfach lossegeln.
Übermorgen verabschiede ich mich in einen Kurzurlaub - zwei Wochen an dem Ort, der auf dieser Erde möglicherweise am weitesten entfernt von allen großen Gewässern liegt. Wer weiß, vielleicht finde ich dort mein altes Ich, das immer noch verborgen zwischen den Seiten meiner Kinderbücher lebt.
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