"Sie war von ihrem Krebsleiden dahingerafft worden. Inoperabel. Ja, er hatte ihr in der letzten Woche vermutlich zu viele Schmerztabletten gegeben, und zuletzt hatte er ihr trotz allem mit einem Kissen auf dem Gesicht helfen müssen ... , aber das hatte er aus Liebe und Menschenfreundlichkeit getan."
Stephen King, "Die Arena"
Neulich habe ich eine Patientin kennengelernt: Ende 70, Erstdiagnose Krebs. Als erstes ist sie von einer Kollegin behandelt worden und hat sich als erstes sofort mit ihr zerstritten. Die anderen Kollegen haben es auch versucht, und mussten anschließend über die Patientin ebenfalls fluchen.
Ich hörte dem Gespräch der Kollegen nur mit einem halben Ohr zu, da ich in meine eigenen Sachen zu sehr vertieft war. Hinzu kam noch, dass sie bereits am Tag der Aufnahme auf die Kardiologie verlegt werden musste, weil man im Aufnahme-EKG eine Rhythmusstörung gesehen hat.
Aus den Augen - aus dem Sinn. Am nächsten Tag dachte keine mehr an die lästige Dame. Wir kümmerten uns weiter um andere, die viel artiger waren und keinen Ärger verursachten.
Am Freitag kam sie aus der Kardiologie zurück - austherapiert und allem Anschein nach wohlauf - wie durch Zufall in eins der Zimmer auf der von mir betreuten Seite. Ich hatte jedoch so viel um die Ohren, dass ich sie selbst nicht begrüßen konnte, und so hat sie wieder einer der Kollegen aufgenommen.
Am nächsten Tag hatte ich Dienst. Im Zimmer, wo die neue alte Patientin lag, musste ich die Zimmernachbarin visitieren (es ging ihr die Tage davor nicht besonders gut, und daher sollte sie am Wochenende täglich ärztlich gesehen werden). Und die besagte Patientin sollte zudem täglich EKG erhalten (die Kollegen aus der Kardiologie begannen die Behandlung mit Amiodaron - einem Medikament, das zur Bekämpfung bereits vorhandener Rhythmusstörungen eingesetzt wird, jedoch so viele Nebenwirkungen hat, dass darunter auch neue auftreten können).
Die klinische Visite war schnell erledigt - der Zimmernachbarin ging es gut, sie hatte keine Luftnot und auch Fieber kam nicht mehr. Ich bereitete das EKG-Gerät für Schreiben vor, und war von der Bereitwilligkeit der von allen als sehr schwierig beschriebenen Patientin sehr überrascht. Sie folgte allen meinen Anweisungen und machte keinen Aufstand.
Das EKG-Schreiben erinnerte mich an meine Frankreich-Famulatur: Dort gehörte es zu den täglichen Aufgaben. Als das Gerät den Papierstreifen herausspuckte, schaute ich ihn mir genau an: prima, normaler Rhythmus. Ich unterhielt mich noch kurz mit der Patientin (nur etwas small talk) und ging aus dem Zimmer raus.
Am Abend bin ich in das Zimmer erneut gerufen worden: Bei der "schwierigen" Patientin war eine Infusion angesetzt worden, sie wisse jetzt aber nichts davon und wolle daher auch nichts nehmen, ohne einen Arzt gesprochen zu haben. Ich ging rein, erklärte ihr, dass der Tropf ihren Knochen helfen wird, fest zu bleiben, da sie jetzt vom Krebs angegriffen zu sein scheinen, und sie stimmte dem Procedere zu. Als ich die Infusion anschloß, blickte sie mich mit den ernsten Augen an und meinte: "Wenn die Diagnose Krebs sich bestätigen sollte, will ich keine Chemotherapie. Und wenn die Krankheit sehr weit fortschreitet und ich Schmerzen bekomme, gehe ich in die Schweiz".
Ich wusste sofort, was das bedeutet: In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe erlaubt - es ist also möglich, dem Krebsleiden dadurch ein Ende zu setzen. Ich erwiderte den Blick und sagte: "Es ist Ihre Entscheidung, und ich kann Sie nicht daran hindern". Das schien die richtige Antwort zu sein: Sie nickte zustimmend, und sogar ihr Blick wurde weicher.
Nach dem Dienst hatte ich ein paar Tage frei. Als ich wieder auf die Station kam, war die Patientin schon entlassen worden. Die Diagnose hat sich bestätigt, sie wollte keinerlei Therapie und ging nach Hause.
Ich glaube nicht, dass wir uns je wiedersehen werden. Die strenge Dame, die mehrere Jahrzehnte lang als Ingenieurin in einer leitenden Position tätig war, kann es nicht zulassen, dass sie über ihre letzten Monate auf dieser Erde die Kontrolle verliert. Wie soll ich dazu stehen? Machen die 6,5-Jahre des Studiums mich dazu berechtigt, über ihr Leben zu entscheiden? Wie weit darf ich in meiner Arztrolle überhaupt eingreifen? Andererseits - was würden ihre Angehörigen wohl dazu sagen, wenn sie wüssten, dass es eine Chance auf ein längeres Leben für die Ehefrau, Mutter, Oma gibt? Dürfen sie dann nicht mitentscheiden?
Schwieriges Thema, das auch hierzulande für viele Diskussionen sorgt. Ich habe keine Antwort, die eindeutig richtig ist. Aber in diesem einen Falle war ich bereit zurückzutreten und die Frau ihrem Schicksal zu überlassen: Es ist ihr Leben.
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