Donnerstag, 19. Juni 2014

Der klinische Blick

Was hat die Menschheit in den letzten Jahrhunderten nicht alles erreicht? Wir haben die kleinsten Lebewesen der Welt entdeckt, den Atom gespalten, alle Tiefen und Höhen dieser Erde besucht und waren sogar schon auf dem Mond! In der Medizin spürt man aber selten den technischen Fortschritt - es sei denn, es ist etwas, was den ganzen klinischen Alltag revolutioniert.

Ein Beispiel dafür hat Alexander Flaming geliefert, als er, statt die verschimmelten Petrischalen wegzuschmeißen, genauer hingeguckt und Penicillin entdeckt hatte: Damit wurde die Ära der Antibiotika eingeleitet, und unzählige Leben konnten gerettet werden.

Ein anderes Beispiel kommt aus Würzburg, wo Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm bebannten Strahlen entdeckte (ein Glück, dass er so einen deklinationsfreudigen Namen hatte, stellt Euch mal vor, der gute Mann hätte Leutheusser-Schnarrenberger gehießen!). Jahrtausende lang konnten die Ärzte sich nur auf ihre fünf Sinne verlassen, und plötzlich wurde es möglich, in einen lebendigen Menschen hineinschauen, ohne ihn aufschneiden zu müssen! Diese Entdeckung hat sich dermaßen in unser aller Alltag integriert, dass heute kaum eine Krankenhausbehandlung ohne ein Röntgenbild stattfinden kann.

Dies war allerdings erst der Anfang, der Anfang einer Medizin der Bildgebung. Nicht nur die Radiologen verdanken ihr ihr täglich Brot, auch Vertreter anderer Fachrichtungen greifen gerne zum Ultraschallgerät oder zum C-Bogen in der Unfallchirurgie. Vieles wäre heute ohne die bildgebenden Maßnahmen unvorstellbar: von Herzkatheter bis zur Tbc-Vorsorge, von Schwangerschaftsbegleitung bis zu neuen Hüften.

In dem großen Luxus der Radiologie versteckt sich allerdings eine Tücke: Wo der sechste oder siebte Sinn trainiert wird, gehen die anderen zugrunde. Es ist wie bei einem Bodybuilder: Denkt er nur an den Schultergürtel, wird sein Po schnell schlapp.

Und so ist es auch in der großen Kunst der klinischen Untersuchung. Wo unsere Vorgänger noch mit Stethoskop und ihren eigenen Fingern in null komma nix ein Pneumothorax* diagnostizieren konnten, wird heute ein Röntgenbild angeordnet. Zu Sicherheit hält man noch den Schallkopf an den Brustkorb und rätselt, was da alles auf dem Bild zu sehen ist, Luft oder keine Luft - bis der Oberarzt aus der alten Schule sein altes Hörrohr aus der Tasche zieht und sofort die richtige Diagnose stellt.

Wir haben uns zu sehr von den Gerätschaften abhängig gemacht und das Gespür für das menschliche Wesen, unseren Patienten, verloren. Heute ist mir etwas passiert, was mich in dieser Überzeugung nur weiter gestärkt hat: Nach der Frühbesprechung bat mich eine Kollegin, eine Patientin, der es nicht gut ging und die in den frühen Morgenstunden Blut erbrochen hat, zur Magenspiegelung zu begleiten - sie sei so schlecht, dass unbedingt ein Arzt mit dem Transport mitgehen muss.

Die Patientin, eine kleine Frau mit einem durchmetastasierten Lungenkrebs, saß weit nach vorne gebeugt in ihrem Bett und ragte sichtlich nach Luft. Man hörte ihre Lunge quitschen und pfeiffen, und als ich mein Stethoskop einsetzte, schieß mir auch lautes Brodeln ins Ohr. Die Dame war sichtlich erschöpft und riss sich immer wieder die Sauerstoffmaske vom Gesicht, um nach "frischer Luft" zu schnappen - wie frisch sie eben im Krankenzimmer war.

In der Endoskopie angekommen, schaute uns der zuständige Oberarzt mit riesengroßen Augen an: "Gastroskopie? Hier? Seid Ihr verrückt geworden???" Nur schade, dass der Transport inzwischen weg war, wir mussten fast eine halbe Stunde auf die Jungs warten. Ein Ausflug über fast anderthalb Stunden - für nix und wieder nix.

In der Zwischenzeit wurde die Luftnot auch nicht besser. Die Patientin quälte sich zusehends. Ich habe versucht, sie ein bisschen zu beruhigen und aufzumuntern, aber es hat sehr wenig gebracht.

Die verlorene Zeit ärgerte mich sehr. Ich wollte mit der Kollegin, die die Untersuchung angeordnet hatte, ein ernsten Wörtchen reden. Doch zu meiner Überraschung wehrte sie sich gar nicht: Sie halte die Magenspiegelung auch für übertrieben, die Oberärztin habe sie haben wollen, weil die Patientin ja heute früh Blut erbrochen hat.

Auf meiner geliebten ITS (von der ich hier schon etliche Male schwärmte) habe ich in der ersten Famulatur etwas ganz wichtiges gelernt, dessen Bedeutung mir in dem Moment noch nicht klar war. Bei der Visite am Bett mit einem sterbenden Patienten meinte der erfahrene Oberarzt (der von der alten Schule) zu mir: "Schau Dir den Mann genau an. Siehst Du, dass er krank ist?" Ich habe damals nur gedacht: Na klar, ist er krank, sonst wäre er ja nicht hier, versuchte aber trotzdem, dieses gewisse Etwas mit meinen Augen und Ohren festzuhalten, das den Unterschied zwischen einem kranken und einem gesunden Menschen ausmacht. Und das war der erste Schritt auf dem langen Weg der Entwicklung meines eigenen Röntgenblicks.

Ich bin da überhaupt nicht weit fortgeschritten: Wie gesagt, fange ich jetzt erst damit an, meine Sinne zu schärfen. Aber ich bin froh, dass ich die Wichtigkeit dieser Entwicklung entdeckt habe, denn so kann ich tatsächlich bewusst auf das Erscheinungsbild meiner Patienten achten und sie nicht mit unsinnigen Untersuchungsaufträgen belasten.

Die Patientin ist ungefähr eine Stunde nach unserer Rückkehr aus der Endoskopie verstorben. Es tut mir sehr leid, dass sie an ihrem letzten Morgen auf dieser Welt hin und her gefahren werden musste, aber ich hoffe, ich habe sie auf ihrem Weg mehr oder weniger anständig begleiten können.

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* - eine Ansammlung von Luft zwischen den Lungenblättern, die bei größeren Mengen zu einem Zusammenfallen der Lunge führen kann.

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