Montag, 22. Dezember 2014

Die Kunst des Heilens

Ich bin nun schon seit über einem Jahr approbiert und feiere bald meine ersten 12 Monate als Ärztin. Wenn ich auf diese Zeit so zurückblicke, sehe ich, dass mein Weg nicht immer sehr einfach war, ganz im Gegenteil, der ist und bleibt bis heute recht steinig.

Es ist irgendwie eine Tradition, dass man am Ende des Jahres an eine – schon relativ willkürliche, wenn man’s bedenkt – Grenze kommt und alles, was sich in der letzten Zeit ereignet hat, Revue passieren lässt. So bin ich jetzt auch an einem Punkt angekommen, wo ich viel über das vergangene Jahr und wie es mich verändert hat nachdenke.

Viele der wesentlichen Punkte habt Ihr ja auch hier im Blog mitbekommen – und ich bin nach wie vor sehr froh, dass ich mich über diese Plattform äußern kann. Einen Gedanken möchte ich allerdings noch vor dem Jahresende loswerden, und er passt leider nicht in die heitere Weihnachtsstimmung.

Zu Beginn meines Studiums habe ich ein Buch geschenkt bekommen, das genau so wie die Überschrift dieses Eintrags heißt. Es geht darin um die Geschichte der Medizin – vom Altertum bis in die heutigen Tage. Es ist wirklich ein sehr gutes Buch, vor allem weil es einen zum Nachdenken bringt und viele Zusammenhänge – auch in heutigen Behandlungsmethoden – klar werden lässt. An dieses Buch denke ich in den letzten Tagen immer wieder, denn nun bin ich lange genug Ärztin, um den Erfolg – oder aber Misserfolg – meiner Handlungen zu sehen.

Im Studium selbst lernt man unheimlich viel Gutes und Nützliches. Wie ist die Energieaufnahme der Zelle aufgebaut? Welche genetischen Störungen kann man klinisch erkennen? Wenn die Erst- und Zweitlinienmedikation bei M. Parkinson nicht funktioniert, worauf kann man noch zurückgreifen?

Um solche Informationen zu verinnerlichen, besuchen wir zahlreiche Vorlesungen und Seminare, üben tagelang am Krankenbett und werden anschließend vom IMPP drei Tage lang unter die Lupe genommen. Dann kommt der klinische Alltag – und die Welt steht plötzlich Kopf.

Keine Frage, je mehr man im Studium gelernt und verstanden hat (und vor allem je mehr von diesen gelernten Informationen dann auch in einer Stresssituation schnell verfügbar sind), desto leichter wird einem der Einstieg in den Arztberuf fallen. Doch das theoretische Wissen ist noch nicht alles.

Wenn ich an positive Erfahrungen dieses Jahres denke, fällt mir mein persönlicher Lerneffekt „Lungenödem“ ein. Zwei Mal musste ich einen Patienten mit diesem akuten lebensbedrohlichen Krankheitsbild sehen, einmal verkannt haben, einmal den an seinem letzten Tag angekommenen, dem durchmetastasierten Krebsleiden erlegenen Patienten bewusst dahin gleiten lassen, um es beim dritten Tag richtig diagnostiziert und behandelt zu haben. Das ist der Ausdruck des lebenslangen Lernens – ich kann jetzt davon ausgehen, dass ich beim nächsten Mal noch schneller die Entscheidung treffen und die Therapie einleiten werde.

Wie schön es auch sein kann, Menschenleben zu retten, so bedrückend ist es auch, ein näheres Ende herbeizurufen, ob direkt oder indirekt. Ich spreche jetzt nicht von der aktiven Sterbehilfe – auch unsere besten Therapieansätze können für einen kranken Körper zu viel sein. In den meisten Fällen ist es die Chemotherapie, die anstatt das Leben zu verlängern dieses nur verkürzt.

Ich bin nun lange genug auf der Krebsstation, um meine Patienten, die ich im Frühling oder Sommer so voller Energie und Lebensfreude kennenlernte, heute mit kahlen Köpfen, kraftlos, energielos, von Nebenwirkungen gequält zu sehen. Viele, bei denen wir damals die Therapie einleiteten – und eigentlich guter Dinge waren – sind heute nicht mehr. Häufig passiert es ganz allmählich, die Kräfte schwinden Tag um Tag, sodass der Mensch irgendwann einfach nicht mehr leben mag, aber manchmal kommt das Ende von jetzt auf gleich.

Noch gestern habe ich diesen Patienten visitiert und wie haben über das weitere Vorgehen nach der Entlassung gesprochen, und heute liegt er in einer Blutlache, weil der Tumor den Übergang zur Lungenarterie endlich geschafft hat. Vor einer Woche wollte ich jenen Patienten anrufen, um mich für die kleine Aufmerksamkeit von ihm zu bedanken, und heute morgen ist er nicht mehr aufgewacht. Am Freitag haben wir einen Patienten auf die Intensivstation mit einem akuten Nierenversagen verlegt, heute kam er zurück, entwickelte kurz darauf eine akute Luftnot und war binnen kürzester Zeit dahin.

Solche Fälle, wo keiner von uns mit einem baldigen Ende gerechnet hat, gehen mir unheimlich nah. Ich nerve dann jeden, den ich nur erreichen kann mit meinen Gedanken und Gefühlen, und kann bei manchen meinen Patienten bis heute nicht loslassen. Immer und immer wieder gehe ich meine Handlungen im Kopf durch: Haben wir alles richtig gemacht? Haben wir an alles gedacht? Warum ist der Patient dann trotzdem gestorben?

Ich habe ja hier auch schon mehrmals zum Thema Tod geschrieben. Dass man den richtigen Moment erkennen muss, dass jeder von uns nur Gast auf dieser Erde ist, dass wir Menschen nicht imstande sind, über anderer Menschen Leben zu entscheiden. Es ist ja alles schön und gut, nur was mache ich jetzt? Ich kann Feierabend machen und nach Hause gehen, aber irgendwo sonst in dieser Stadt, gar nicht so weit von hier, kommt nach dem heutigen Tage keiner mehr heim.

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