Freitag, 5. Juli 2013

Woche 45. Der Lebensabend

"Die Menschen werden immer älter", - das hört man inzwischen recht häufig, auch unter Nichtmedizinern. Und es stimmt: Es reicht, sich die Patienten auf einer Station anzuschauen. Sogar in einem so altersstufenübergreifenden Fach wie Unfallchirurgie lässt es sich mehr als deutlich nachweisen.

Zum Beispiel Rettungsstelle: Eine sehr häufige Patientengruppe dort kommt tatsächlich aus den Altersheimen. Meistens nach einem Sturz, an den sie sich auch nicht mehr erinnern. Viele sind dement, liegen auf der Trage und sind total in ihrer eigenen Welt versunken, ohne sich für uns zu interessieren.

Diese Beobachtungen haben mich viel zum Nachdenken gebracht. Der Lebensabend oder das hohe Alter, egal wie man es nennt, erwartet jeden Menschen - so oder so. Als Ausnahme gilt, man kann ja immer noch früh sterben, aber darüber möchte ich hier lieber nicht sprechen.

Es geht also um die Omas und Opas, die manchmal sogar noch den ersten Weltkrieg miterlebt haben. Viele sind über 85, manche über 90, wenige haben ein dreistelliges Alter erreicht. Ein komisches Gefühl kommt immer in mir hoch, wenn ich solche betagten Menschen sehe.

Ich denke mir nämlich jedes Mal, dass sie ja auch mal jung und voller Hoffnung waren. Diese kleine Frau, die jetzt zusammengekauert in ihrem Bett liegt und wie ein Häufchen Elend aussieht, war auch mal ein kleines Mädchen und hat jeden Tag aufs Neue mit Energie und Wissbegierde die Welt entdeckt. Sie war jung und bestimmt hübsch - das sieht man ihr immer noch an. Sie hat einen Mann getroffen, hat sich in ihn verliebt und heiratete ihn im Endeffekt. Die Szenen sehe ich vor meinem inneren Auge: Zum ersten Mal zieht sie das Brautkleid an. Passt der Schleier dazu? Haben wir bei der Feier an alles gedacht? Nein, er darf mich im Brautkleid vor der Trauung nicht sehen, das bringt Unglück!

Nach der Hochzeit blüht sie auf und freut sich auf die Kinder. Sie ist im besten Alter und kann alles schaffen. Wenn sie Glück hat, kommt ihr Mann sogar nach dem Krieg zu ihr zurück. Ab jetzt wird alles besser sein.

Die Jahre und die Jahrzente vergehen wie im Flug. Zum ersten Mal wird sie Großmutter, auch wenn sie noch nicht mal 60 ist und sich immer noch jung fühlt. Wenn da bloß nicht diese Vergesslichkeit wäre...

30 Jahre später liegt sie auf der Trage in unserer Rettungsstelle. Sie wohnt jetzt in einem Heim und erkennt nicht mal ihre Kinder wieder: Die Demenz hat sich in ihrem Kopf breit gemacht und alle Erinnerungen gefressen. Sie kam ins Krankenhaus, weil sie im Bad ausgerutscht ist - eine häufige Geschichte. Die Ärzte in der Unfallchirurgie verstehen ihr Handwerk gut: Am nächsten Tag ist sie schon eine stolze Besitzerin eines neuen Hüftgelenks. Hat sie das überhaupt bemerkt? Was kriegt sie von der Außenwelt noch mit? Wie können wir, außenstehenden, am besten zu ihr durchdringen? Müssen wir das überhaupt? Ist sie glücklich in ihrer Welt?

Solche Fragen gehen mir durch den Kopf, wenn ich diese oder eine änliche Geschichte immer und immer miterlebe. Es passiert immer häufiger: Die Menschen werden eben älter, das merkt man doch.

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