Wer meine letzten Blogeinträge liest, mag sich vielleicht denken, dass mir jeden Tag etwas schlimmes passiert. Das ist natürlich nicht der Fall, nur braucht man positive Emotionen eben nicht so intensiv zu verarbeiten, und deshalb bleiben sie meist unbeschrieben. Um nun die Stimmung ins Fröhliche zu lenken (vor allem angesichts der nahenden Weihnachtszeit), folgt hier ein Eintrag über das Beste, was ich im Arztberuf bisher gefunden habe.
Mein Vater, der seine Wehrpflicht auf einem U-Boot abgeleistet hatte, behielt aus diesen Zeiten ein großes Foto mit seinen Kameraden, auf dem noch stand: "Nur auf einem U-Boot findet man diesen einzigartigen Zusammenhalt. Denn wenn das Boot verunglückt, sterben sie alle, und gerade das schweißt die Männer zusammen".
Der Stationsalltag, wie öde er auch sein mag, ist natürlich in keinster Art und Weise mit dem Wehrdienst am Meeresgrund vergleichbar. Doch auch dort, angesichts des alltäglichen Stresses, des Frusts und der Demütigung, entstehen Freundschaften, die denen an der Front sehr ähneln.
Egal in welcher Klinik ich bin (ob im Irrenhaus von Brandenburg oder jetzt in der Betreuung krebskranker), es finden sich immer Menschen, mit denen ich mich auf eine ganz einzigartige Art verbunden fühle (wie durch dieses Zauberfädchen, von dem noch Goethe schrieb). Diese Freundschaften helfen mir enorm, mein Engagement aufrechtzuerhalten und nicht alles hinzuschmeißen und abzuhauen.
Klar, es gibt bei mir jede Menge Durchhänger (wie, glaube ich, bei jedem von uns). Aber umso stärker baut es mich wieder auf, wenn Hilfe kommt, wenn jemand, der auch dasselbe gerade erlebt oder erlebt hat, genau die richtigen Worte findet, damit ich sage: "Wow, hey, das gibt mir wieder Kraft".
Häufig hilft bereits ein kurzes Gespräch (in dem die Themen allerdings in Sekundenschnelle wechseln können, von klassischen Werken oder moderner Poesie bis zum deutschen Hip-Hop ist alles dabei!), und schon gehe ich mit geradem Rücken mich den nächsten Aufgaben stellen. Die Hilfe meiner lieben Mitmenschen ist dabei wirklich unschätzbar. Sie weitet meinen Horizont, sie zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich am liebsten losheulen würde, sie lässt mich immer und immer wieder das Licht am Ende des Tunnels erblicken und daran glauben, dass nicht alles verloren ist.
Ich kann nur sagen: Vielen Dank! Lasst das Gute, was Ihr meinem Leben habt angedeihen lassen, zu Euch zurückkommen, vertausendfacht. Lasst Eure Probleme, bei denen ich Euch leider sehr nur sehr wenig behilflich sein kann, dahinschweben, damit sich die trüben Wolken am Horizont bald verziehen und Ihr wieder den ganzen Tag Spaß machen, lachen und albern sein könnt. Ich drücke Euch allen da draußen die Daumen: "So say we all!"
Samstag, 29. November 2014
Donnerstag, 13. November 2014
Never say never
Vor langer, langer Zeit (ich glaube, es war so im fünften Semester) fand ich einen Nebenjob als Nachtwache in einem schicken Altersheim direkt am Kudamm. Die Arbeit an sich war so lala (vor allem die Bezahlung war total mau - für einen achtstündigen Nachtdienst bekam ich gerade so 56 €), aber manche Bewohner habe ich echt ins Herz geschlossen, und das half mir durch.
Eine von ihnen, mit der ich mich am besten verstand, war eine 101-jährige Dame, die wie eine Lokomotive rauchte, aber nach wie vor einen kristallklaren Verstand besaß. Sie war klein und zierlich, und während ich ihre Beine für die Nacht von den Kompressionsstrümpfen befreite, erzählte sie mir aus ihrem Leben: Wie sie über 50 Jahre eine Wohnung nicht weit von hier bewohnte, wie Berlin sich im Laufe ihres Lebens veränderte, wie ihr "lieber Vati" als Ingenieur zur Jahrhundertwende Flugzeuge mitentwickelte und noch viel mehr.
Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hat seitdem nie geheiratet. Kinder hatten sie keine, und so widmete sie sich ihren zahlreichen Nichten und Neffen. Die meisten von ihnen leben in der ganzen Welt zerstreut, kaum jemand ist in Berlin geblieben.
An dieser Freundschaft erfreute ich mich sehr. Und für die alte Dame bin ich auch zu einer Bezugsperson geworden. Ab und zu hatte sie Zeiten, bei denen sie sich nicht wohl fühlte, und sie bat mich dann, auch in der Nacht nach ihr zu sehen. Jedes Mal, als ich es wirklich tat, erhellte sich ihr Gesicht und sie schlief danach friedlich ein (das erzählte sie mir dann immer bei der nächsten Begegnung).
So nett und lieb, wie meine kleine Freundin auch war, konnte ich früher oder später keinen Spaß mehr an der Arbeit im Altersheim finden und bin gegangen. An meinem letzten Abend dort, als ich sie wie immer aufsuchte, um sie bettfertig zu machen, war sie viel bedrückter als sonst und sehr traurig. Ich werde ihr fehlen, hat sie gesagt, und schenkte mir einen kleinen Schutzengel, der die ganze Zeit davor auf ihrem Nachttisch stand.
Ich habe versprochen, sie anzurufen, und hatte es die ganze Zeit danach auch fest vor. Nur kam dann aber der Jobwechsel, ich musste mich bei der anderen Stelle (im Schlaflabor) ordentlich einarbeiten, und habe den Anruf immer wieder verschoben. Im Juli hatte meine Freundin Geburtstag, und ich war schon Monate davor dazu eingeladen worden. Kurz davor habe ich gedacht, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo ich zum Telefon greifen und die bekannte Nummer wählen soll: Das Gespräch darf nicht verschoben werden!
Doch als ich anrief, ging keiner ran. Ich habe es wieder und wieder versucht, auch an anderen Tagen - ohne Erfolg. Meine Hoffnung war, dass sie vielleicht im Krankenhaus ist - an das Schlimmste wollte ich nicht denken.
Ein paar Monate danach traf ich einen Arbeitskollegen in der Bahn. Ein wenig Small-talk - na, wie geht's, alles klar - bis ich die Frage stellte, was mit der kleinen Dame passiert ist. Die ist schon längst gestorben - war die Antwort. Nach meiner Kündigung habe sie angefangen, rapide abzubauen - körperlich wie geistig - und war binnen kurzer Zeit dahin.
Ich hatte es die ganze Zeit befürchtet, und trotzdem traf mich diese Nachricht wie ein Schlag. Es war so, als hätte in diesem Moment jemand das Wort "Nimmermehr" in mein Ohr geflüstert - wie in diesem Gedicht von Poe.
Der kleine Schutzengel steht immer noch in meinem Wohnzimmer. Ich hatte mir damals geschworen, dass ich nie wieder etwas verschieben werde, niemals.
Diesen Eintrag hier schreibe ich jetzt, weil ich das doch getan habe. Ein Patient, den ich im Juni kennenlernte und der mir seitdem sehr ans Herz gewachsen war, ist letzte Woche verstorben. Kurz davor war er noch bei uns auf Station vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen - da war ich aber im Urlaub, und er hat ein kleines Geschenkkörbchen hinterlassen. Ich hatte seitdem die ganze Zeit vor, ihn anzurufen um mich zu bedanken - und habe es nicht getan.
Gewissensbisse habe ich jetzt reichlich. Aber was hilft es denn? Hätte ich bloß zur richtigen Zeit zum Telefon gegriffen - nun ist der Augenblick vorbei. Das einzige, was ich machen kann, ist allen in meiner Reichweite diesen einen Gedanken ans Herz zu legen: Haltet den Moment, vertagt nichts und sagt Euren Lieben, dass Ihr sie lieb habt, jedes Mal, wenn Ihr es könnt. Denn es wird früher oder später die Zeit kommen, bei der der Rabe das Wort ergreift: "Nimmermehr".
Eine von ihnen, mit der ich mich am besten verstand, war eine 101-jährige Dame, die wie eine Lokomotive rauchte, aber nach wie vor einen kristallklaren Verstand besaß. Sie war klein und zierlich, und während ich ihre Beine für die Nacht von den Kompressionsstrümpfen befreite, erzählte sie mir aus ihrem Leben: Wie sie über 50 Jahre eine Wohnung nicht weit von hier bewohnte, wie Berlin sich im Laufe ihres Lebens veränderte, wie ihr "lieber Vati" als Ingenieur zur Jahrhundertwende Flugzeuge mitentwickelte und noch viel mehr.
Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hat seitdem nie geheiratet. Kinder hatten sie keine, und so widmete sie sich ihren zahlreichen Nichten und Neffen. Die meisten von ihnen leben in der ganzen Welt zerstreut, kaum jemand ist in Berlin geblieben.
An dieser Freundschaft erfreute ich mich sehr. Und für die alte Dame bin ich auch zu einer Bezugsperson geworden. Ab und zu hatte sie Zeiten, bei denen sie sich nicht wohl fühlte, und sie bat mich dann, auch in der Nacht nach ihr zu sehen. Jedes Mal, als ich es wirklich tat, erhellte sich ihr Gesicht und sie schlief danach friedlich ein (das erzählte sie mir dann immer bei der nächsten Begegnung).
So nett und lieb, wie meine kleine Freundin auch war, konnte ich früher oder später keinen Spaß mehr an der Arbeit im Altersheim finden und bin gegangen. An meinem letzten Abend dort, als ich sie wie immer aufsuchte, um sie bettfertig zu machen, war sie viel bedrückter als sonst und sehr traurig. Ich werde ihr fehlen, hat sie gesagt, und schenkte mir einen kleinen Schutzengel, der die ganze Zeit davor auf ihrem Nachttisch stand.
Ich habe versprochen, sie anzurufen, und hatte es die ganze Zeit danach auch fest vor. Nur kam dann aber der Jobwechsel, ich musste mich bei der anderen Stelle (im Schlaflabor) ordentlich einarbeiten, und habe den Anruf immer wieder verschoben. Im Juli hatte meine Freundin Geburtstag, und ich war schon Monate davor dazu eingeladen worden. Kurz davor habe ich gedacht, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo ich zum Telefon greifen und die bekannte Nummer wählen soll: Das Gespräch darf nicht verschoben werden!
Doch als ich anrief, ging keiner ran. Ich habe es wieder und wieder versucht, auch an anderen Tagen - ohne Erfolg. Meine Hoffnung war, dass sie vielleicht im Krankenhaus ist - an das Schlimmste wollte ich nicht denken.
Ein paar Monate danach traf ich einen Arbeitskollegen in der Bahn. Ein wenig Small-talk - na, wie geht's, alles klar - bis ich die Frage stellte, was mit der kleinen Dame passiert ist. Die ist schon längst gestorben - war die Antwort. Nach meiner Kündigung habe sie angefangen, rapide abzubauen - körperlich wie geistig - und war binnen kurzer Zeit dahin.
Ich hatte es die ganze Zeit befürchtet, und trotzdem traf mich diese Nachricht wie ein Schlag. Es war so, als hätte in diesem Moment jemand das Wort "Nimmermehr" in mein Ohr geflüstert - wie in diesem Gedicht von Poe.
Der kleine Schutzengel steht immer noch in meinem Wohnzimmer. Ich hatte mir damals geschworen, dass ich nie wieder etwas verschieben werde, niemals.
Diesen Eintrag hier schreibe ich jetzt, weil ich das doch getan habe. Ein Patient, den ich im Juni kennenlernte und der mir seitdem sehr ans Herz gewachsen war, ist letzte Woche verstorben. Kurz davor war er noch bei uns auf Station vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen - da war ich aber im Urlaub, und er hat ein kleines Geschenkkörbchen hinterlassen. Ich hatte seitdem die ganze Zeit vor, ihn anzurufen um mich zu bedanken - und habe es nicht getan.
Gewissensbisse habe ich jetzt reichlich. Aber was hilft es denn? Hätte ich bloß zur richtigen Zeit zum Telefon gegriffen - nun ist der Augenblick vorbei. Das einzige, was ich machen kann, ist allen in meiner Reichweite diesen einen Gedanken ans Herz zu legen: Haltet den Moment, vertagt nichts und sagt Euren Lieben, dass Ihr sie lieb habt, jedes Mal, wenn Ihr es könnt. Denn es wird früher oder später die Zeit kommen, bei der der Rabe das Wort ergreift: "Nimmermehr".
Donnerstag, 6. November 2014
It's my life
"Sie war von ihrem Krebsleiden dahingerafft worden. Inoperabel. Ja, er hatte ihr in der letzten Woche vermutlich zu viele Schmerztabletten gegeben, und zuletzt hatte er ihr trotz allem mit einem Kissen auf dem Gesicht helfen müssen ... , aber das hatte er aus Liebe und Menschenfreundlichkeit getan."
Stephen King, "Die Arena"
Neulich habe ich eine Patientin kennengelernt: Ende 70, Erstdiagnose Krebs. Als erstes ist sie von einer Kollegin behandelt worden und hat sich als erstes sofort mit ihr zerstritten. Die anderen Kollegen haben es auch versucht, und mussten anschließend über die Patientin ebenfalls fluchen.
Ich hörte dem Gespräch der Kollegen nur mit einem halben Ohr zu, da ich in meine eigenen Sachen zu sehr vertieft war. Hinzu kam noch, dass sie bereits am Tag der Aufnahme auf die Kardiologie verlegt werden musste, weil man im Aufnahme-EKG eine Rhythmusstörung gesehen hat.
Aus den Augen - aus dem Sinn. Am nächsten Tag dachte keine mehr an die lästige Dame. Wir kümmerten uns weiter um andere, die viel artiger waren und keinen Ärger verursachten.
Am Freitag kam sie aus der Kardiologie zurück - austherapiert und allem Anschein nach wohlauf - wie durch Zufall in eins der Zimmer auf der von mir betreuten Seite. Ich hatte jedoch so viel um die Ohren, dass ich sie selbst nicht begrüßen konnte, und so hat sie wieder einer der Kollegen aufgenommen.
Am nächsten Tag hatte ich Dienst. Im Zimmer, wo die neue alte Patientin lag, musste ich die Zimmernachbarin visitieren (es ging ihr die Tage davor nicht besonders gut, und daher sollte sie am Wochenende täglich ärztlich gesehen werden). Und die besagte Patientin sollte zudem täglich EKG erhalten (die Kollegen aus der Kardiologie begannen die Behandlung mit Amiodaron - einem Medikament, das zur Bekämpfung bereits vorhandener Rhythmusstörungen eingesetzt wird, jedoch so viele Nebenwirkungen hat, dass darunter auch neue auftreten können).
Die klinische Visite war schnell erledigt - der Zimmernachbarin ging es gut, sie hatte keine Luftnot und auch Fieber kam nicht mehr. Ich bereitete das EKG-Gerät für Schreiben vor, und war von der Bereitwilligkeit der von allen als sehr schwierig beschriebenen Patientin sehr überrascht. Sie folgte allen meinen Anweisungen und machte keinen Aufstand.
Das EKG-Schreiben erinnerte mich an meine Frankreich-Famulatur: Dort gehörte es zu den täglichen Aufgaben. Als das Gerät den Papierstreifen herausspuckte, schaute ich ihn mir genau an: prima, normaler Rhythmus. Ich unterhielt mich noch kurz mit der Patientin (nur etwas small talk) und ging aus dem Zimmer raus.
Am Abend bin ich in das Zimmer erneut gerufen worden: Bei der "schwierigen" Patientin war eine Infusion angesetzt worden, sie wisse jetzt aber nichts davon und wolle daher auch nichts nehmen, ohne einen Arzt gesprochen zu haben. Ich ging rein, erklärte ihr, dass der Tropf ihren Knochen helfen wird, fest zu bleiben, da sie jetzt vom Krebs angegriffen zu sein scheinen, und sie stimmte dem Procedere zu. Als ich die Infusion anschloß, blickte sie mich mit den ernsten Augen an und meinte: "Wenn die Diagnose Krebs sich bestätigen sollte, will ich keine Chemotherapie. Und wenn die Krankheit sehr weit fortschreitet und ich Schmerzen bekomme, gehe ich in die Schweiz".
Ich wusste sofort, was das bedeutet: In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe erlaubt - es ist also möglich, dem Krebsleiden dadurch ein Ende zu setzen. Ich erwiderte den Blick und sagte: "Es ist Ihre Entscheidung, und ich kann Sie nicht daran hindern". Das schien die richtige Antwort zu sein: Sie nickte zustimmend, und sogar ihr Blick wurde weicher.
Nach dem Dienst hatte ich ein paar Tage frei. Als ich wieder auf die Station kam, war die Patientin schon entlassen worden. Die Diagnose hat sich bestätigt, sie wollte keinerlei Therapie und ging nach Hause.
Ich glaube nicht, dass wir uns je wiedersehen werden. Die strenge Dame, die mehrere Jahrzehnte lang als Ingenieurin in einer leitenden Position tätig war, kann es nicht zulassen, dass sie über ihre letzten Monate auf dieser Erde die Kontrolle verliert. Wie soll ich dazu stehen? Machen die 6,5-Jahre des Studiums mich dazu berechtigt, über ihr Leben zu entscheiden? Wie weit darf ich in meiner Arztrolle überhaupt eingreifen? Andererseits - was würden ihre Angehörigen wohl dazu sagen, wenn sie wüssten, dass es eine Chance auf ein längeres Leben für die Ehefrau, Mutter, Oma gibt? Dürfen sie dann nicht mitentscheiden?
Schwieriges Thema, das auch hierzulande für viele Diskussionen sorgt. Ich habe keine Antwort, die eindeutig richtig ist. Aber in diesem einen Falle war ich bereit zurückzutreten und die Frau ihrem Schicksal zu überlassen: Es ist ihr Leben.
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