Sonntag, 27. Juli 2014

Der Kranke

In Russland werden Patienten meistens mit der Anrede "Kranker" oder "Kranke" angesprochen. Kaum hört man, wie hierzulande, das Wort "Patient", das ich viel angebrachter finde. Im ersten Falle steckt dahinter so eine Art Überhebligkeit, sodass andere Leute - die "Kranken" eben - wie von oben herab behandelt werden.

Das ist ein gutes Beispiel, um russische Mentalität generell und russische Medizin an sich zu verstehen. Jeder, der nur ein bisschen Macht besitzt, wird sie auch sofort raushängen und anderen das Gefühl vermitteln, nichtig zu sein. Deswegen ist es keine Seltenheit, dass Patienten in Krankenhäusen oder Polikliniken gedutzt werden, genauso wie Besucher in verschiedenen Ämten. Ich finde das sehr unhöflich und habe durch mein zwanghaftes "Sie" auch dem letzten Obdachlosen gegenüber in meinem russischen Pflegepraktikum für viel Sympathie gesorgt. Auch wenn die Schwester das nicht verstehen konnten und / oder wollten.

Egal. Jeder hat halt sein eigenes Weltbild, und Du wirst nicht allen Deinen Kopf an die Schulter setzen können. Mein eigentliches Erlebnis liegt eigentlich woanders. Und zwar: Neulich habe ich begriffen, dass unsere Patienten, unsere "Kranken", in der Tat ganz eigenständige Leute sind und auch ein Leben außerhalb des Krankenhauses besitzen.

Es mag sich wie Hirngespinst anhören, aber es war für mich wirklich wie ein Paukenschlag. Die Ehefrau eines Patienten hat mich auf dem Flur angesprochen und wollte Auskunft. Ich war so fertig mit den Nerven - es war mal wieder so ein verrückter Tag, wo man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist - dass ich sie schnellstmöglich abwimmeln wollte, um mich anderen Aufgaben zu widmen. Außerdem hatte ich am Tag davor ausführlichst mit ihrem Mann gesprochen und ihm alle Informationen so richtig vorgekaut. (Off-Topic: Ich mag es wirklich nicht, wenn tausend Angehörige einer nach dem anderen an meiner Tür klopfen und immer dasselbe wissen wollen, anstatt sich miteinander auszutauschen!!!)

Nun ja, zurück zu der Frau. Sie war natürlich nicht besonders begeistert, als ich sie abschütteln wollte, und als ich meinte, ich müsse mich auch um die anderen kümmern, es seien schließlich noch mehr Patienten hier, die dieselbe Krankheit haben, antwortete sie: "Mag sein, aber für mich ist mein Mann der einzige".

Das war der Moment, der mir quasi die Augen geöffnet hat. Von dem Augenblick an habe ich angefangen mir vorzustellen, wie meine Patienten auf ihre Angehörigen wirken. Dieser nervige Opa, der jeden meinen diagnostischen oder therapeutischen Schritt ganz genau wissen und unter die Lupe nehmen will, scheint tatsächlich der Familienoberhaupt zu sein, dem alle zu gehorchen haben. Sein Nachbar, der immer gut gelaunt ist, wird fast jeden Tag von seiner Frau besucht, die ebenfalls sehr nett erscheint, und erzählt mir jedes Mal von seinen zahlreichen Kindern, Nichten, Neffen und Enkelkindern. Der dritte wiederum ist immer sehr mürrisch - kein Wunder, seine Frau, mit der er in einer Woche seit 60 Jahren verheiratet ist, wird gerade am Herzen operiert, und sowas lässt einen nicht kalt.

Eine alte Weisheit, die allerdings fast immer stimmt: Wenn man sich für Menschen tatsächich interessiert, kann es passieren, dass sie einem die Seele öffnen. Und da sind häufig solche Schätze versteckt, dass sich der Zeitaufwand auf einmal mehr als lohnt. Nur schade, dass wir gerade aufgrund von Sommerferien so dünn besetzt sind, dass fast jeder Tag so verrückt ist und man nicht weiß, wo sich oben und unten befinden. Die versteckten Schätze müssen warten, mir bleiben nur noch fünf Minuten für die Visite.

2 Kommentare:

  1. Hallo,

    ich möchte auch ein Pflegepraktikum in Russland absolvieren. Kannst bitte sagen, wie du es gefunden hast und ob es nachher irgendwelche Probleme mit der Anerkennung gab? Es wäre sehr nett, denn es ist wirklich sehr schwer, was zu dem Thema zu finden...

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    1. Heyho! Schön, dass Du Russland gerne näher kennenlernen möchtest!!! Ich denke, mit einem Praktikum geht es sowieso am besten.
      Bei mir ging es mit der Platzsuche damals sehr unkompliziert. Ich war da sowieso vor Ort Familie besuchen, und meine Schwester kannte durch ihre Arbeit im Krankenhaus viele Stationsleitungen. Sie fragte nach, ob ich auf der Neurochirurgie hospitieren darf, ich stellte mich noch persönlich am nächsten Tag vor, und erhielt sofort die Zusage.
      Vieles läuft in Russland über Vitamin B (Beziehungen...). Wenn man aber von außerhalb kommt, werden einem auch mesteins keine Steine in den Weg gelegt. Hast Du denn schon Kontakte nach Russland? Sprichst Du Russisch? Hast Du eine Vorstellung, in welche Stadt / Region Du gehen möchtest? Hat Deine Uni vielleicht Kooperationspartner dort?
      Mit der Anerkennung hatte ich keine Probleme. Ich nahm den deutsch-englisch-sprachigen Vordruck mit, und er wurde mir dort abgestempelt und unterschrieben. Ich ließ dann im Nachhinein hier noch den Stemplen und die Unterschrift übersetzen und damit war die Sache gegessen. Frage aber zur Sicherheit noch in Deinem Prüfungsamt, was in dem Landesamt für Gesundheit und Soziales sitzt, ob Du noch gesondert den Antrag auf Anerkennung stellen sollst (bei Famulaturen ist es z.B. Pflicht).
      Wenn Du noch Fragen hast, melde Dich einfach! Ansonsten viel Erfolg bei der Vorbereitung :)

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