Freitag, 9. November 2012

Woche 11. Hauptsache gesund

Der Wechsel auf die nächste Station verlief ganz angenehm (auch wenn recht chaotisch): Diese Woche fehlen 2 Ärzte, und auf meiner alten Station musste sogar die Rettungsstelle von der PJ-lerin besetzt werden, weil die einzige Ärztin dort die Station gemacht hat. Da, wo ich jetzt bin, sind immerhin 2 Assistenzärzte + 1 Oberärztin unterwegs, sodass wir es ein bisschen leichter haben.

Trotzdem war der Montag ziemlich stressig. Die Stationsärztin kam gerade aus einem dreiwöchigen Urlaub und musste erstmal zurück in die Routine finden. Ich war eben den ersten Tag da und wusste auch nichts bescheid. Wir haben also gemeinsam nach der Orientierung gesucht, und ich hoffe, gefunden. Am Donnerstag war ich aber noch platter als sonst nach Hause gekommen, und mir erst mal einen schönen ruhigen Abend gegöhnt.

Diese Woche war wieder so eine, wo mir vieles durch den Kopf gegangen ist. Diesmal habe ich mich mit dem Thema "Schwerbehinderte Kinder" auseinander gesetzt.

Am Dienstag habe ich die Liste für die Röntgenbesprechung vorbereitet. Unter vielen Kindern mit Unterarmfraktur gab es auch einen Jungen, der mir immer noch in Erinnerung bleibt. Ich habe ihn nicht gekannt, und ich kenne seine Eltern auch nicht, aber seine Geschichte werde ich wohl nicht so schnell wieder vergessen.

Der Kleine ist inzwischen 1 Jahr alt. Er wurde in Russland geboren, nach einer ganz normal verlaufenen Schwangerschaft. Die ersten vier Wochen seiner Entwicklung waren auch unauffällig, er lernte die Welt kennen, fing vielleicht sogar langsam an zu lächeln.

Doch dann veränderte sich alles. An einem Tag schrie der Junge mehrere Stunden lang, und ließ sich nicht beruhigen. Die Eltern brachten ihn ins nächste Krankenhaus, dort stellte man eine enorme Hirnblutung fest.

Auch heute weiß keiner, wieso er auf einmal so stark geblutet hat. Die Ärzte bei uns tippen auf einen Vitamin-K-Mangel, weil es in Russland nicht üblich ist, die Neugeborenen prophylaktisch mit Vitamin K zu versorgen, und die Muttermilch zu wenig davon enthält. Dieses Vitamin ist wichtig für die Bildung vieler Gerinnungsfaktoren, ohne es droht die Gefahr schwerer Blutungen. Wie es in diesem Fall wohl war.

Als die Bilder vom Jungen in der Röntgenbesprechung gezeigt wurden, hielten alle inne. Wir sahen fast komplett zerstörtes Hirngewebe, nur in der Hirnrinde war noch etwas Leben.

Wie gesagt, ich kenne den kleinen Patienten nicht, und ich weiß nicht, wie er jetzt klinisch aussieht. Aber so viel wird da höchstwahrscheinlich nicht mehr zu machen sein.

Der andere Patient, den ich auch diese Woche persönlich kennenlernte, ist schon größer, ungefähr zwei Jahre alt, und kommt aus Estland. Bei ihm war die Schwangerschaft ebenfalls unauffällig, genauso wie die Geburt. Heute kann er immer noch nicht gehen, er spricht nicht, und keiner weiß, ob er sich noch weiter entwickeln kann und wie viel er von der Außenwelt überhaupt wahrnimmt. Seine Hirnhäute haben sich am 7. Lebenstag infiziert, dann ging die Entzündung auf das Hirngewebe und die Ventrikel über. Dabei wurde auch fast das komplette Gehirn zerstört, im MRT sahen wir nur Narben.

Die Geschichten dieser beiden Kinder gehen mir sehr nah ans Herz. Ich stelle mir vor, wie die Mütter von der Schwangerschaft erfuhren, wie sie und ihre Familien sich auf den Nachwuchs freuten. Wie sie Angst vor der Geburt hatten, aber auch erleichtert waren, als alles vorbei war, und sie ihre Kleinen das erste Mal im Arm hatten. Wie die frohe Botschaft von einem zum anderen ging: Wir haben einen Sohn, einen Enkelsohn, einen Neffen!.. Und dann auf einmal steht die Welt kopf, und keiner weiß mehr, wohin die Reise geht. Was erwartet sie? Wie lange wird das Kind noch leben? Hält die Familie unter dieser enormen Belastung zusammen oder zerbricht sie, wie leider so häufig? Werden die Eltern noch einen Versuch wagen, oder sind sie so fertig mit den Nerven, dass die Kinderfrage für sie für immer und ewig kein Thema mehr sein wird?

Solche Geschichten vergisst man nie. Und ich weiß, wie die Antwort auf die Frage "Wilsst Du einen Jungen oder ein Mädchen?" in Zukunft lauten soll: "Hauptsache gesund".

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