Dienstag, 10. Mai 2016

Mein Weg in die Medizin

Schon vor sehr, sehr, sehr, ..., sehr, sehr langer Zeit bin ich hier im Blog gefragt worden, wie ich nun in die Medizin gefunden habe. Tja, und hier kommt die Antwort!

Also... Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Wahrscheinlich im Sommerpraktikum nach der 7. oder 8. Klasse, wo ich in der Bibliothek der Schule aushelfen (sprich aufräumen) war. Da fragte mich die Bibliothekarin, was ich nach der Schule so machen will, und hat meine Antwort missverstanden - "Ärztin willst Du also werden, schön!".

So, das war meine erste Berührung mit der Welt im weißen Kittel! Natürlich habe ich es damals nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Um Medizin zu studieren hätte ich aus meiner Heimatstadt gemusst, und dafür fehlte mir, einem 16-jährigen Mädchen (in Russland macht man sehr früh Abi) die Mut.

Ich bin also als erstes Ingenieur geworden. Auch ein schöner Beruf, wenn man's bedenkt. Aber ich wollte mit 22 (ach ja, nach dem Abi geht man meistens direkt studieren) noch nicht meine Karriere starten, die 40 Jahre später mit dem Rentenantritt enden sollte. Stattdessen wollte ich etwas von der Welt sehen, was erleben, neue Menschen kennenlernen. Dafür hat sich plötzlich eine Möglichkeit geboten, als Au-Pair nach Deutschland zu kommen.

Das habe ich dann getan und ein sehr schönes Jahr in einer lieben Familie im Großraum Frankfurt / Main verbracht. Die Zeit dort war toll, hat mich mit unglaublich vielen neuen Eindrücken beschert und natürlich mit jeder Menge neuer Bekanntschaften. Und eine wichtige Entdeckung habe ich noch gemacht: Während des Unterrichts in den Deutsch-Kursen fiel mir auf, dass ich enorm gerne lerne! Ich habe anscheinend nach der Schule und dem ersten Studium noch nicht den Spaß am Erwerb neuer Informationen verloren, und habe daher beschlossen: Ich will noch ein mal studieren!

Tja, und was denn? Hmm, mal schauen. Eine technische Ausbildung habe ich schon. Geisteswissenschaften - never ever, damit könnt Ihr mich jagen! Was bleibt? Naturwissenschaften. Schön, Bio fand ich in der Schule ja schon immer cool! Hinzu kam, dass meine Gastmutter ausgerechnet Ärztin war - die Entscheidung fiel, Medizin soll es also werden!

Um meine Chancen auf einen Studienplatz zu erhöhen, habe ich mich gleich in mehreren Städten beworden: Frankfurt, Berlin und Gießen. Berlin habe ich durch meine "Gastoma" kennen und lieben gelernt, daher war das meine Prio Eins. Wie schön, dass ich von der Charité auch eine Zusage kriegte! (Eigentlich habe ich von allen drei Unis einen Zulassungsbescheid bekommen, da war mein 1,0-Durchschnitt aus dem Abi und dem Diplomstudium sehr hilfreich!) Noch schöner wurde es, als ich erfuhr, dass ich im begehrten Reformstudiengang studieren darf - als eine der 63 Erstis.

Über den Reformstudiengang muss ich vielleicht auch mal schreiben - den gibt es inzwischen leider nicht mehr. Ganz kurz - seinem Curriculum verdanke ich meinen Abschluss. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich das Studium in seiner traditionellen Form (also Vorklinikum, Physikum, Klinikum, mit einzelnen Fächern und jeweils einzelnen Prüfungen) geschafft hätte. Im Reformstudiengang gab es stattdessen Blöcke, und schlechtere Kenntnisse in einem Fach konnte man mit guter Leistung in einem anderen ausgleichen. (Anatomie, wir sind nie Freunde geworden!) Dass es kein Physikum für uns gab, war quasi noch das Sahnehäubchen!

Nichtsdestotrotz hatte ich in den ersten Semestern sehr viel am Lernstoff zu knabbern! Anspruchsvolles Studium, und das in einer Fremdsprache, und das ohne je genügend Lerntechnicken kennengelernt zu haben! In den ersten Wochen habe ich jedes (auch fakultative) Seminar besucht, bis abends spät noch in der Bib oder mit den 3D-Modellen gearbeitet, alles was ging auswendig gelernt... Und das konnte nicht gut ausgehen. Nicht mal zwei Monate nach dem Semesterbeginn wäre ich in der Uni beinahe umgekippt. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause fand, aber ich blieb danach drei Tage im Bett und konnte einfach nicht mehr aufstehen.

Als ich mich schließlich wieder auf die Beine traute, wurde mir klar, dass ich meinen Umgang mit dem Riesenberg neuer Informationen ändern muss. Ohne mir dessen bewusst zu sein, wandte ich die Grundregel des Zeitmanagements an: priorisieren. Um das Studium erfolgreich abzuschließen, muss ich  Prüfungen bestehen. Um Prüfungen zu bestehen, muss ich Lernziele für jeden Block beherrschen - darum ging es, nicht mehr und nicht weniger.

Das habe ich dann gemacht. Ich sah nicht mehr in jeder Univeranstaltung drin, meine Zeit vergeudend, sondern lernte viel mehr alleine - und später in Lerngruppen - mit den Büchern, in meinem Tempo, und ließ mir die Zeit, die ich brauchte. Mit jedem weiteren Semester wurde es leichter, ich gewann an Überblick und wusste, worauf ich mich beim Lernen konzentrieren soll.

Alles in allem war mein Studium kein Spaziergang. Es forderte viel von mir ab. Aber es gab mir auch unheimlich viel zurück - neue Erfahrungen, neue Freundschaften, neue Perspektiven - sodass ich meine Entscheidung, diesen Weg anzuschlagen nie und niemals bereut habe. Und es wird hoffentlich auch in der Zukunft so bleiben.  

Freitag, 8. April 2016

Zufallsbefund mit Konsequenzen



Der menschliche Körper ist ein unglaublich kompliziertes Ding! Egal welche Ebene man nimmt – von der Molekularstruktur und biochemischen Prozessen bis hin zu der Makroanatomie mit ihren unzähligen Details. Und was dermaßen kompliziert aufgebaut ist, kann auch an jeder Stelle kaputt gehen.
Das ist dann die Aufgabe der Medizin: herauszufinden, was defekt ist, und das möglichst gut reparieren. Das klappt mal besser mal schlechter – bei ganz vielen Krankheitsbildern sind wir noch nicht schlauer als die Natur.
Der Weg bis zur Diagnose ist oft sehr steinig. Krankheiten, wie diese kleinen Fieslinge in „Es war einmal das Leben“, verstecken sich, was das Zeug hält. Alles, ehrlich gesagt, vollkommen nachvollziehbar: Sie wollen halt auch überleben.

Umso mehr freut man sich, natürlich, wenn man diese Fieslinge entdeckt und erkannt hat. Nicht umsonst ist Dr. House eine Berühmtheit in seiner Welt, und nicht umsonst gibt es jetzt das Pendant seiner Abteilung an einer der deutschen Uni. Erst wenn man die richtige Diagnose gestellt hat, kann man die Therapie einleiten und dem Patienten helfen.

So weit, so gut. Nicht so selten gibt es jedoch Geschichten, die etwas anders verlaufen. Zahlreiche Krankheiten sind nämlich sehr gemein: Trägt man sie im Körper, fällt es den anderen – und dem Körper selbst! – gar nicht auf. Die Breite dieser Künstler des Versteckens kann sehr variabel sein, von Tuberkulose bis Lungenkrebs, von kleinem Klappenfehler bis kurz vor Herzinfarkt.

Beide Beispiele (Lungenkrebs und Herzinfarkt) habe ich bereits ziemlich häufig gesehen. Umso gravierender sind dann die Folgen für die Patienten: Sie kommen ins Krankenhaus und fühlen sich – meistens – fit, sie gehen und sind schwerbehindert (im besten Falle).

Ein solcher Zufallsbefund wird mir wohl sehr lange in Erinnerung bleiben. Ein Patient kam kurz vor Weihnachten ins Krankenhaus auf die Einweisung seines Diabetologen. Mitte siebzig, sportlich, wie man gerne sagt – rustikal, promovierter Zahnarzt, Mitglied in einem Wanderverein. Außer Diabetes keine Vorerkrankungen, macht viel und gerne Sport. Dem Arzt war unregelmäßiger Puls aufgefallen. Wir machten ein EKG: Alles klar, Erstmanifestation eines Vorhofflimmerns. Die häufigste relevante Rhythmusstörung, das weitere Vorgehen schon tausendmal durchgekaut – Elektrolyte checken und ggf. normalisieren, Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls berechnen, daraus die richtige Antikoagulation ableiten, 24 Stunden Langzeit-EKG (ob der normale Rhythmus von alleine zurückkehrt?), ambulante Ischämiediagnostik empfehlen (beim niedergelassenen Kardiologen z.B. mit Echokardiographie unter Belastung) und tschüss. Bereits nach der Aufnahme habe ich schon den Entlassungsbrief diktiert – was sollte da noch kommen?

Am nächsten Morgen wollte ich mir vor der Visite noch die Telemetrie-Aufzeichnung anschauen – um dem Patienten ruhigen Gewissens die gute Nachricht mit der Entlassung überbringen zu können. Aha, das Vorhofflimmern ist immer noch da. Antikoagulation braucht er auf jeden Fall, kriegt sie auch schon seit gestern. Die Zeit habe ich noch: Gucke ich mir noch die Nacht durch. Klick, klick, aller klar. Mooooomeeeeeeent!!!! Was ist denn das??? Auf dem Monitor – plötzlich – Kammertachykardie* zu sehen, gleich mehrere Schläge nacheinander. Ich messe aus: 15 Sekunden. Mir wird gleich voll bange. Mit diesem Befund kann ich den Patienten auf keinen Fall entlassen!

Ich drucke den Streifen aus und renne zum Oberarzt. Vielleicht habe ich mich ja verguckt? Er schaut auf das Zettelchen: Alles richtig, eine der gefährlichsten Rhythmusstörungen, mitten in der Nacht! Sofort ins Katheterlabor, heute noch!! Kammertachykardie kommt meistens nicht von alleine, eine hochgradige Ischämie – also Unterversorgung des Herzens mit Blut – ist sehr wahrscheinlich. Und das müssen wir sofort abklären.
Ein paar Anrufe später (Katheterlabor – bitte den Patienten auf den Plan setzen, Küche – Herr W. bleibt bitte ab sofort nüchtern, Schwestern – die Telemetrie, sprich, das Langzeit-EKG auf keinen Fall abnehmen!) traue ich mich auch ins Patientenzimmer. Der besagte Herr ist in bester Laune, packt auch schon langsam seine Sachen zusammen. Vorsichtig, ohne ihn von Kopf zu stoßen, erzähle ich von dem gravierenden Befund. Das Lächeln schwindet langsam. Ja, natürlich, stimmt er der Katheteruntersuchung zu. Was da jetzt wohl rauskommt?

Zwei Stunden später wissen wir das: höchstgradige KHK (koronare Herzkrankheit), alle Herzgefäße sind betroffen, der Hauptstamm (also, die Arterie, aus der zwei der drei Gefäße entspringen) zu 50% verschlossen. So einen gravierenden Befund kann man auf dem Kathetertisch mit Ballons und Stents nicht mehr gerade biegen. Es gibt nur eine Möglichkeit – Bypass-OP, Eingriff am offenen Herzen.

Wiederum eine Stunde später habe ich schon einen Verlegungstermin ins nächste Herzzentrum. Gleich morgen geht es los. Übermorgen wird der Patient voraussichtlich operiert. Er ist natürlich etwas baff, so schnell kann man sich aus scheinbarer Gesundheit in die Lebensgefahr begeben, versucht aber alles so gelassen wie es geht hinzunehmen. Wir verabschieden uns mit einem Lächeln, ich wünsche ihm vom Herzen alles Gute.

Alles in allem kann man hier vom großen Glück in Unglück sprechen: Wäre die Kammertachykardie eben nicht in der Nacht der Überwachung aufgetreten, hätte ich den Patienten ohne weiteres am nächsten Morgen entlassen. Und das mit der tickenden Zeitbombe in der Brust – die man ja eben von draußen nicht gesehen hat.

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* - potenziell lebensgefährliche Rhythmusstörung, da sie quasi die Vorstufe zum Kammerflimmern ist. Die Erregung der Herzzellen kommt nicht – wie im Normalfall – aus dem Vorhof oder dem dahinter geschalteten Ersatzzentrum, sondern aus der Kammerselbst, und zwar nicht als einzelner Schlag (was an sich noch unbedenklich ist), sondern gleich mehrmals hintereinander und mit hoher Frequenz – so um die 150-160 bpm. Je höher die Frequenz, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Zellen erregt werden, die sich elektrisch noch nicht erholt haben (in der sog. „vulnerablen“ Phase), daraufhin kann es zu einer kreisenden Erregung kommen und somit zum Kammerflimmern – die Herzwände flimmern nur, es wird kein Blut fortbewegt. Die kreisende Erregung kann man nur mit einem Defibrillator unterbrechen, und das muss sehr schnell gehen – innerhalt weniger Minuten, sonst drohen bleibende Schäden und Tod.

Sonntag, 28. Februar 2016

Etwas off-top

Diese Woche ist etwas passiert, was eigentlich nichts mit Medizin zu tun hat und mich trotzdem so aus der Bahn warf, dass ich darüber unbedingt hier schreiben muss. Ich bin zum ersten Mal Opfer einer Straftat geworden.

Zum Glück ist dabei keiner verletzt worden. Es war "nur" ein Einbruch in unser Haus und ich kam als erste nach Hause und habe es daher als erste festgestellt. Die Diebe waren zu dem Zeitpunkt schon längst weg - mit unserem Hab und Gut.

Am Anfang habe ich es gar nicht so richtig begriffen. Beim Reinkommen sah ich im Flur neben meiner Tasche ein paar Sachen auf dem Boden liegen - und dachte, mein Mann hätte etwas darin gesucht. Als ich die Lichterkette im Arbeitszimmer anmachte, fiel mir eine halb rausgezogene Schublade auf, die ich ohne Hintergedanken zurückschob.

Erst als ich das eigeschlagene und geöffnete Fenster im Esszimmer sah, kam mir langsam in den Sinn, dass hier etwas nicht stimmt. Ich versuchte, nicht sofort in Panik zu geraten und rief die Polizei an.

Kurz darauf kam mein Mann nach Hause - er wusste inzwischen auch Bescheid. Wir gingen vorsichtig durch alle Zimmer um zu schauen, wie groß der Schaden war. In meinem Schlafzimmer standen alle Schränke offen, der Schmuck war offensichtlich durchwühlt und chaotisch hinterlassen worden.

Eine Stunde später war die Kriminalpolizei bei uns. Zwei nette Damen, die unserer kurzen Geschichte aufmerksam zuhörten und dann versuchten, alle möglichen Hinweise zu erfassen. Schuhabdruck auf dem Fensterbrett, Fingerabdruck auf dem Spiegelschrank - alles wurde penibelst untersucht und festgehalten.

Der Abend war sehr aufregend, ich konnte mich aber noch relativ gut beherrschen. Erst als ich im Laufe der nächsten Tage sah, was die Diebe alles gestohlen hatten, überkamen mich die Trauer und die Wut. Viele wichtige Dinge - z.B. mein Portemonnaie und die Papiere - hatten sie nicht gefunden. Dafür eben den Schmucktisch und meine Ketten, die für mich vom unheimlichen ideellen Wert waren!

Es ist so ein blödes Gefühl, zu wissen, dass jemand in Dein Zuhause, Deine Privatsphäre eingedrungen war und in Deinen Sachen rumwühlte! Wie soll ich mich hier je wieder wohl und sicher fühlen? Ich fürchte, daran werde ich noch Ewigkeit zu knabbern haben.

Und heute hatte ich noch einen interessanten Gedanken: Angenommen, die Leute, die mich jetzt bestohlen haben, kommen Jahre später zu mir als Arzt. Ich werde sie auch behandeln und ihnen mit Respekt gegenübertreten müssen - ich werde nie erfahren, wer mir das angetan hat. Das ist das blöde am Arztberuf: Egal, was die Patienten in ihrem Leben verbrochen haben mögen, als Arzt bist Du verpflichtet, zu helfen und zu heilen.