Die Unversehrtheit des eigenen Körpers: Heutzutage eine ganz selbsverständliche Sache (war übrigens nicht immer so, aber mehr dazu im Geschichtsunterricht). Deswegen müssen sich die Ärzte mit den unendlichen Aufklärungsgesprächen abquälen und dürfen diese nicht mal an Schwestern oder Medizinstudenten delegieren. Deswegen kriegen die Patienten meistens noch vor der geplanten Aufnahme ins Krankenhaus einen riesigen Stapel Papiere in die Hand gedrückt, bestehend aus etlichen Aufklärungsbögen, mit dem Hinweis, diese unbedingt noch vor dem ärztlichen Gespräch durchzulesen. Viele - vor allem ältere - haben dann so viel Vertrauen in das medizinische System, dass sie alles ohne weiteres bereits unterschrieben zurückbringen. Spart im Alltag zwar Zeit, ist aber als rechtliche Grauzone eher kritisch zu sehen.
Nun ja, diese ganzen aufwendigen Vorbereitungen dienen im Prinzip nur einem Zweck: Der Patient soll über den geplanten Eingriff oder die geplanten Untersuchungen möglichst umfassend informiert sein, um selbst entscheiden zu können, ob er dem nun zustimmt oder nicht. Klar, dass keine sechs Jahre Studium auf ein Blatt Papier kommen, aber es ist schon ein Schritt in die richtige Richtung.
So ist im Wesentlichen mein Gedankengang, wenn ich mich als Ärztin zu einem Aufklärungsgespräch begebe. Im Studium haben wir es schon geübt: Begrüßung, Vorstellung, Wahl der geeigneten Sprache ohne Fachausdrücke, gibt es noch offene Fragen am Ende? Ich kann zwar nicht zu jeder möglichen Untersuchung alle auch noch die kleinsten Risiken runterbeten, versuche aber schon das Wichtigste zu schildern.
Neulich habe ich mich mit einer alten Familienfreundin getroffen. Eigentlich ist sie die Freundin meiner Eltern und gehört daher streng genommen in deren Generation. Ich mag sie aber auch sehr gerne und treffe sie so oft ich kann (was eher so alle 1-2 Jahre geschieht, da zwischen unseren Wohnorten ca. 600 km liegen). Sie ist examinierte Krankenschwester vom Beruf und erzählt gerne und viel von ihrer Arbeit. Außerdem ist sie unverkennbar die gute Seele der Familie und wird wegen ihrer fachlichen und sprachlichen Kenntnisse gut und gerne von den zahlreichen Verwandten zu den Arztbesuchen mitgenommen.
Sie erzählte mir von einer Verwandten, die sie jetzt regelmäßig in verschiedene Arztpraxen und Krankenhäuser begleiten muss. Bei der Frau wurde neulich Brustkrebst festgestellt, leider schon metastasiert und daher nicht operabel.
Alles an sich sehr traurig. Nun muss sie Chemotherapie und Bestrahlung über sich ergehen lassen und wird wahrscheinlich nie wieder gesund. Solche Schicksale habe ich leider auch häufig auf meiner Krebsstation gesehen. Was mich hier aber stützig gemacht hat: Von ihrer Diagnose weiß die Frau nicht. Die Freundin, die mir das erzählte, betonte, dass sie ihr bewusst nichts davon gesagt hatte und das auch in der Zukunft nicht machen wird. Und die Patientin spricht nicht so gut Deutsch um das ganze ohne Hilfe zu verstehen.
Den Gedanken dahinter kann ich schon nachvollziehen. Die Freundin will ihre Verwandte schützen und ihr die letzte Zeit auf dieser Erde (Monate? Jahre?) nicht mit dem Urteil "Krebs" versäumen. Ich frage mich nur, inwieweit es der Frau gegenüber fair ist. Es ist schließlich ihr Körper, und theoretisch hätte sie schon Recht zu erfahren, was da los ist.
Was aber für mich nun eine nachdenkenswerte Frage ist, dürfte für die Generation meiner Eltern gar nicht zur Diskussion stehen. Denn das Recht auf die Unversehrtheit des Körpers, auf Einbeziehung in den Heilungsprozess, auf die gemeinsame Entscheidungsfindung ist eben nichts selbstverständliches und wird erst seit relativ wenigen Jahren in der Schulmedizin praktiziert. Als meine Mutter jung war, durfte man als Laie nicht mal die eigenen Blutdruckwerte erfahren, und Arztbriefe wurden in verschlossenen Umschlägen mit Aufschrift "Vertraulich" verschickt. Es gehörte zum Alltag, schlimme Diagnosen wie eben Krebs vom Patienten so lange wie möglich geheim zu halten.
Es hat beides seine Vor- und Nachteile. Manche Menschen scheinen mit zu vielen Informationen tatsächlich eher überfordert zu sein und blenden alles wieder aus, sobald das Gespräch vorbei ist - ein Schutzmechanismus unserer Psyche, gar nicht so sinnlos. Den einen richtigen Weg für alle gibt es halt nicht, wir sind alle zu unterschiedlich. Ich freue mich aber, dass ich in der Gesellschaft lebe, wo ich über meinen Körper frei verfügen und mit dem behandelnden Arzt (fast) auf Augenhöhe reden kann. Auch wenn es noch mehr lästige Aufklärungsgespräche für beide Seiten bedeutet - sei es drum.