Neulich ist auf unserer Station etwas passiert, was nicht so alltäglich ist und alle Beteiligten, glaube ich, ziemlich berührt und bewegt hat.
Es war so. Wir hatten einen Patienten - erneut dieses traurige Schicksal - jung, krebskrank, unheilbar. Die Diagnose lag schon ein oder zwei Jahre zurück, der Mann hatte sich bis dahin wacker geschlagen. Aber früher oder später musste auch dieser Moment kommen, wo der Lebenskampf mit dem Krebs eine andere Richtung einschlägt, und die Krankheit langsam die Oberhand gewinnt.
Dieser Umschlag kommt bei jedem Patienten mit unheilbarem Krebsleiden. Inwieweit die Niederlage von der Chemotherapie beschleunigt wird, kann ich nicht beurteilen. Aber sie trägt erheblich dazu bei (ist ja auch purer Gift!), und deshalb sagen wir bei ganz kraftlosen Patienten, sie sollen lieber eine Therapiepause einlegen, ohne Chemo überleben sie sogar länger.
Nun ja, der besagte Patient befand sich schon in der Drittlinientherapie. Das heißt, es war schon die dritte Kombination an Medikamenten, mit der wir versuchten, den Krebswachstum einzudämmen. Diese Kombination hatte er nur ein Mal erhalten und kam geplant zur Forführung.
Als ich den Namen auf der Stationsliste sah, wusste ich, dass ich den Patienten kenne, hatte jedoch auf Anhieb kein Gesicht vor dem inneren Auge. Im Patientenzimmer angekommen, erkannte ich ihn sofort und wusste - jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem er von der Chemo nicht mehr profitiert.
Normalerweise versuchen wir Leute in solcher Situation zu "päppeln" - sie werden mit Krankengymnastik, parenteraler Ernährung, Atemtherapie und so weiter unterstützt, um wieder zu den Kräften zu kommen, um weiter kämpfen zu können. Manchmal gelingt es. Manchmal nicht, und der Mensch gibt auf und verabschiedet sich in die letzte Reise.
Bei unserem jungen Patienten war ich eigentlich guter Dinge. Bei der Visite unterhielt ich mich immer lange mit ihm, um rauszufinden, ob wir ihm noch etwas gutes tun könnten. Es schien zu funktionieren: Er lief sogar ab und zu mit dem Rollator im Flur herum, und ich hoffte, er wird die Kurve noch kriegen.
Ich war ein paar Tage nicht in der Klinik, und als ich zurück kam, lag der Patient im Sterben. Die Kollegen erzählten mir, er sei Mitte letzter Woche plötzlich eingebrochen, und sie befürchteten schon, er wird sofort sterben. Dann hat er sich wieder berappelt, sodass alle dachten, die Krise sei nun vorbei, um am Sonntag wieder aufzugeben. Und am darauffolgenen Tag, als ich zum Dienst kam, war der Sterbeprozess schon im vollen Gange.
Es ist immer sehr schwierig, Leute beim Ableben zu begleiten, wobei der schwierigste Teil hier im Umgang mit den Angehörigen liegt. Unzählige Male schon musste ich jemandem am Telefon die traurige Nachricht überbringen, und dann miterleben, wie Leute am Hörer zusammenbrechen. Es gibt nichts, was in solcher Situation den Schmerz lindern kann. Ich versuche es trotzdem, auch wenn ich weiß, dass es nichts bringt, weil ich es einfach nicht lassen kann.
Und so war das auch diesmal. Am Bett des Patienten saß seine Ehefrau, völlig am Ende mit den Nerven, ununterbrochen weinend. Ich schaute mir den Mann an, um einzuschätzen, ob er Schmerzen hatte, und versuchte, ein paar tröstende Worter für die Frau zu finden. Sie nahm mich, glaube ich, nur am Rande wahr, was ich absolut verstehe und nachvollziehen kann. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer wieder raus.
Später an diesem Tag kam die große Aufregung. Die Frau will den gemeinsamen Sohn den Papa noch besuchen lassen. Alle waren total empört - einen Fünfjährigen kann man doch nicht zu einem Sterbenden bringen! Es gab eine große Diskussion, inwieweit es noch gerechtfertigt ist und ob man der Frau das einfach nicht untersagen soll.
Am Ende durfte der Sohn seinen Papa noch sehen. Er kam aus der Kita und wollte sofort ins Zimmer rein. Das ging aber nicht - ein paar Kollegen aus dem Team der Sterbebegleitung wollten ihm vorerst erklären, was ihn jetzt erwartet. Er hörte aufmerksam zu, ließ sich aber nicht einschüchtern. Im Zimmer angekommen, krabbelte er sofort auf das Bett und schaute dem Vater neugierig ins Gesicht.
In weniger als einer Stunde war es vorbei. Der Kleine durfte bis zu den letzten Atemzügen Papas dabei bleiben. Er schien den Vorgang nicht ganz zu verstehen, und wunderte sich, warum der Vater auf einmal nicht mehr atmet. Die Mutter sagte ihm: "Der Papa ist jetzt im Himmel", und weinte bitterlich.
Ich weiß nicht, wie die Geschichte weiter ging. Der kleine Mann wird irgendwann auch groß werden. Wird er sich an diesen Tag noch erinnern? Was genau wird ihm dabei im Gedächtnis bleiben? Wird er es als Segen oder als Fluch empfinden, dass er dem Vater bei den letzten Atemzügen zusah? Wie wird sich dieses Erlebnis auf seine Entwicklung auswirken?
Ich habe meinen ersten Toten auch mit fünf Jahren gesehen. Mein Opa war gestorben, und meine Mutter nahm mich zu allen damit verbunden Verpflichtungen mit - von Zubereitung des Trauermahls bis hin zum Begräbnis selbst. Ich weiß noch, wie ich den Opa im Sarg sah und wusste, dass er nicht mehr lebt. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich damals auch darauf vorbereitet wurde und Erklärungen bekam. Ich wusste es einfach.
Ich habe dieses Erlebnis nicht als traumatisch in Erinnerung. Ganz im Gegenteil, dadurch konnte ich sehr früh lernen, dass Tod nun auch ein Teil des Lebens ist. Als in den nächsten 10 Jahren die anderen Großeltern sich verabschiedeten, nahm ich das auch einfach so hin. Erst als mein Vater starb, mit 58 Jahren und unerwartet, warf mich sein Tod komplett aus der Bahn, und ich brauchte eine Ewigkeit, um es mehr oder weniger verarbeitet zu haben.
Ich weiß wirklich nicht, wie es dem kleinen Jungen nun gehen wird. Ich hoffe, er wird das Gefühl behalten können, dass sein Papa immer bei ihm ist, wenn er ihn braucht - auch wenn bloß in seinen Gedanken. Es ist nicht schön, sich alleine auf der Welt zu wissen. Wir sind Kinder, solange unsere Eltern noch leben, und werden erwachsen, wenn sie die Welt verlassen. Der kleine Mann musste mit fünf Jahren schon den ersten Schritt in diese Richtung machen. Hoffen wir, dass der zweite erst Jahrzehnte später folgt.